Foto: "Vor Wien", in der Uraufführung des Westfälischen Landestheaters Castrop-Rauxel mit Burghard Braun. © Volker Beushausen
Text:Stefan Keim, am 8. Oktober 2012
Wenn Erol pochierte Wachteleier will, bekommt er welche. Denn er hat die „diamant card“ und verbringt sein Leben in Flugzeugen. Wenn er in der Luft ist, hört er ein Rauschen, das ihn erregt und süchtig macht. Seine Familie auf dem Boden vernachlässigt er. Als das Stück „Vor Wien“ beginnt, ist Erol schon tot. Seine Tochter macht sich auf die Suche nach ihm und lässt seinen Geist wiederauferstehen. Irgendwann ist Erol einfach verschwunden. Er stieg in ein Flugzeug, löste sich in Luft auf und ist nicht wieder gelandet. Dass Erol aus der Türkei stammt, merkt man nur an einigen historischen Erzählungen über die Eroberung Konstantinopels, des heutigen Istanbul. Sonst geht es in „Vor Wien“ um die Auflösung aller Bindungen, nationaler, persönlicher, sogar dem Erdboden will Erol entfliehen. Er wird zu einer Zwischenexistenz, halb Mensch, halb Luftgeist.
Der 21jährige, in Essen geborene Autor Akin E. Sipal studiert an der Hamburger Filmhochschule. Ein großer Teil seines Textes besteht aus langen, verdichteten Monologen mit vielen originellen Sprachbildern und absurden Gags. Theater aus dem Geist des poetry slam, versponnen und wirkungsvoll zugleich. Die Uraufführung ist das Finale des Autorenworkshops „In Zukunft“, in dem das Westfälische Landestheater Castrop-Rauxel nach neuen Stücken der zweiten und dritten Migrantengeneration in Deutschland suchte. Insgesamt neun Theatertexte wurden da ein Jahr lang in regelmäßigen Arbeitstreffen diskutiert und entwickelt. Ziel des Landestheaters ist es, für jeden Autoren eine Bühne zu finden. Sipals Stück wurde von einer Expertenjury ausgesucht, der Suhrkamp Verlag hat den Autor unter Vertrag genommen. In Ihm steckt enormes sprachliches Potential und eine eigenwillige szenische Fantasie.
Die Uraufführung durch den Regisseur und Dramaturgen Christian Scholze, der auch den Autorenworkshop ersonnen hat, gerät im ersten Teil ein bisschen staatstragend. Vorsichtig und behutsam nähern sich die Schauspieler dem vielschichtigen Text, als ob sie sich nicht recht trauten, die Sätze in den Mund zu nehmen. Vor und auf einer mit roten Streifen verkleideten Treppenkonstruktion, die an eine Gangway erinnert, verkümmern manche Pointen. Das ändert sich nach der Pause, das Ensemble wird freier, Scholze inszeniert geisterhafte Szenen, in denen Erol über den Wolken einen Bruder im Geiste findet, mit dem er Malt Whisky trinken und über die servierten Gerichte schwadronieren kann. Der Film „Up in the air“ mit George Clooney scheint Pate gestanden zu haben, der Autor hat ihn aber nach eigenem Bekunden bis zur Premiere noch nicht gesehen.
Nach der Uraufführung gibt es erst mal eine lange Pause. Erst im Februar soll es eine weitere Aufführung in Castrop-Rauxel geben. Dann allerdings nicht mehr in der Stadthalle, die immer für viel Geld angemietet werden muss, sondern in einer kleineren Version im Studio. Gastspiele stehen dann erst in der nächsten Spielzeit an. Durch die Planungsvorläufe des Landestheaters braucht so eine spontane Produktion Zeit, bis sie ihren Weg in den Spielplan findet. Bleibt nur der Wunsch, dass viele Abstecherorte ihr Publikum mit diesem originellen, erst etwas sperrigen doch zunehmend unterhaltsamen Stück konfrontieren. Durch die Finanzkrise verkaufen sich fast nur noch sichere Nummern, Krimis, Komödien und Musicals. Umso wichtiger ist das Bekenntnis des Westfälischen Landestheaters – mit finanzieller Unterstützung des Kulturministeriums – zur zeitgenössischen Dramatik.