Foto: Physical Theatre Student*innen der Folkwang Universität der Künste, Antje Prust (hinten), Adi Hrustemović (vorne) in "Bakchen" am Schauspiel Dortmung © Birgit Hupfeld
Text:Hans-Christoph Zimmermann, am 18. September 2022
Der Gott kommt besoffen zur Premiere. Schon im Foyer torkelt Dionysos (Antje Prust) brüllend umher. „Kennt ihr meinen Namen?“, herrscht er die Wartenden an. Keine Reaktion. Auf der Straße lebt er jedenfalls nicht – sein Dress aus Lackhose, Stiefeln und Topp ist blütenweiß und rein. Und die, die ihn erwarten, haben sich ihrem Idol auch schon anverwandelt. Neun Thebaner*innen tanzen in Zeitlupe über die Bühne des Dortmunder Schauspiels. Jugendliche in einem Outfit, das die Tennismode mit Pullunder, Kniestrümpfen, kurzen Röcken zitiert. In ihrem Tanz, der auch schon Trance sein könnte, ruft ihnen Pentheus‘ Tochter (Valentina Schüler) als gedankliches Residuum ein Kinderspiel in Erinnerung.
Die lost generation der Bakchen
„Die Bakchen“ des Euripides aus dem Jahr 405 v. Chr. gelten seit Jahrzehnten als Kronzeugen einer dialektischen Moderne: Dass die Stadt Theben, Sinnbild zweckrationalen Handelns und Herrschens, seine Religion des Rausches nicht anerkennt, wurmt Dionysos mächtig. Also verführt er die thebanischen Frauen zu seinem Glauben, vulgo: ekstatischen Raves. Widerstand leistet nur König Pentheus, der schließlich – von Dionysos überredet – als Voyeur die Dionysien beobachtet, dabei von seiner Mutter Agaue entdeckt und schließlich zerfleischt wird. In Dortmund sind an die Stelle der Frauen nun Jugendliche getreten. Eine lost generation (wie so viele vor ihr), die auf den Druck des Spätkapitalismus, auf Selbstoptimierung, Hyperindividualismus, Naturzerstörung und vielem mehr mit Depression reagiert.
Die ehemalige Dortmunder Chefdramaturgin Sabine Reich, die Ende der vergangenen Spielzeit mit ihrer fristlosen Kündigung für Aufsehen sorgte, aber das Bakchen-Projekt noch betreute, hat für ihre Fassung die Übersetzung von Simon Werle genutzt, sie aber vor allem mit Texten von nikxxo angereichert. Dahinter verbirgt sich eine virtuelle Person, die auf der Internet-Plattform Wattpad ein „Depressions-Tagebuch“ veröffentlicht. Die Texte reichen von Zustandsbeschreibungen wie „ich kann nicht atmen“ oder „ich hasse berührungen“ bis zu berührenden Klagen, die vom Ritzen sprechen, das Versagen der Eltern bilanzieren, aber auch vor Selbsterniedrigung nicht Halt macht. Regisseurin Julia Wissert nutzt diese Texte für ein beeindruckend ambivalentes Bild.
Während der eingekerkerte Dionysos in einem Streitgespräch mit König Pentheus verstrickt ist, erscheinen die nach oben blickenden Jugendlichen als Projektion aus der Vogelperspektive gefilmt. Die Texte münden schließlich in den Aufschrei „Vater, hörst Du mich?!“. Es ist dann nicht der Vater, also Pentheus, der darauf reagiert, sondern Dionysos, der neue Anführer, dem man die Arme entgegenreckt. Sein torkelndes Pathos, sein Plädoyer für den Rausch, seine Selbstinszenierung als Fremder – all das lässt ihn plötzlich zum Idol werden.
Der Kitschverdacht der Dionysien
Was die Jugendlichen an ihren Eltern kritisieren, das allerdings lässt sich an der Deutung der Pentheus-Figur kaum ablesen. Adi Hrustemović spielt ihn als ziemlich eitlen Poseur, der zwar mit rassistischen Stereotypen auf Dionysos reagiert, aber im violetten Anzug eher wie ein Hedonist daherkommt. Von kapitalistischen Zwängen ist bei ihm wenig zu sehen. Zu seinem eigentlichen Widersacher gerät an diesem Abend weniger Dionysos als sein eigener Großvater Kadmos, der vermutlich in Erinnerung an seine Hippie-Zeit für die Jugendlichen Partei ergreift. Er versucht, seinen Sohn tänzelnd zu provozieren, reißt miese Eisbär-Witze und berichtet schließlich bewegt von den rauschhaften Dionysien. Alexander Darkow spielt sich als Kadmod mit seiner zunehmend eindringlicheren Darstellung gefährlich nah ins Zentrum der Aufführung.
Mit den Dionysien gerät die Inszenierung dann in schweren Kitschverdacht: Die von Dionysos befreiten Jugendlichen (Studierende des Physical Theatre-Studiengangs an der Folkwang-Uni in Essen) räkeln sich über die Stufenbühne mit einem halb versunkene PKW-Dach, zaubern Blumen hervor und stecken sie in den Bühnenboden. Dazu wabern im Hintergrund psychodelische Farbschlieren (Bühne und Video: Nicole Wytyczak). Dionysos erscheint selbst im Psychodelic-Dress – man ist froh, wenn die Szene in einen Techno-Rave übergeht.
Es sind allerdings solche unaufgelösten Ambivalenzen, die die Inszenierung so problematisch wie spannend machen: Die sich wiederholende Vaterfixierung von Pentheus und den Jugendlichen selbst, die schließlich Dionysos als neuen Anführer wählen. Oder auch der Verweis auf die Psychodelik und 1968, das eben auch von Altamont bis zur RAF gewaltsame Folgen zeitigte. Pentheus wird schließlich von seiner eigenen Tochter im Schwitzkasten erstickt – als Umkehrung von „ich kann nicht atmen“. Angekündigt hatte sie die Tat durch ein Zitat aus einem Gedicht von Heiner Müller, das den Vater als Toten beschwört. In einer bewegenden Klage distanziert sich Kadmos von seiner Enkelin und legt sich an die Seite seines toten Sohnes. Das Triumphgeheul des Dionysos („Ich bin die Vielfalt des Kosmos… Jetzt sind wir frei“), der wie eine Statue dasteht, wirkt da dann doch ziemlich hohl. Die Inszenierung von Julia Wissert hat Stärken genauso wie Schwächen, gerade in der Darstellung, aber sie bietet eminent politischen Diskussionsstoff. Nachdem die Intendantin in der vergangenen Spielzeit wegen der schwachen Auslastung von 22 Prozent schwer in die Kritik geriet, könnten „Bakchen – die verlorene Generation“ ein erster Schritt aus dieser Krise sein.