Anne Weber ist eine wunderbare Geschichte gelungen, die ausgehend von der wirklichen Biografie der Anne Beaumanoir grundlegende Fragen zum Typus der Linksintellektuellen im 20. Jahrhunderts in ihrer ganzen Ambivalenz aufnimmt: einerseits sich stark für die Probleme der Unterdrückten einzusetzen, zum anderen aber von den Institutionen, die sich politisch für deren Rechte einsetzen, nicht nur unter Druck gesetzt, sondern auch verraten zu werden – der Macht wegen.
Zerriebene Ideale
In diesem Heldinnenepos geht es also um Ideale und wie sie durch Machtspiele verraten werden. Wie kann sich subjektives Empfinden gegen die Gewalt durchsetzen? Da Annette eine Frau ist, wird die Geschichte noch komplexer: Wie entscheidet sich eine Frau zwischen Familie (Kindern), Arbeit und politischem Engagement? Anne Weber gibt in ihrem Buch keine Antworten, sie berichtet distanziert, humorvoll-wissend. Es sei denn, man will am Ende den Bezug zum „Sisyphos“-Mythos, den Albert Camus als Sinnbild der absurden menschlichen Existenz definiert, als eine Interpretationsmöglichkeit begreifen – den ständigen Kampf gegen Windmühlen und dabei doch ein „glücklicher“ Sisyphos zu sein.
In seiner Bearbeitung für das Schauspiel Stuttgart bleibt Dušan David Pařízek nahe am Originaltext. Er kürzt und strafft die Handlungen. Er hält sich an die strikte Chronologie der Vorlage, vor allen Dingen an deren sprachliche Realisierung mit dem Ton eines Heldenliedes mit seinen freien Rhythmen. Das bedeutet, dass er die epische Erzählhaltung übernimmt, sie aber aufzubrechen versucht, in dem er drei Annettes agieren lässt. Diese verkörpern nicht Altersstufen der Figur, sondern markieren verschiedene Grundhaltungen. Sarah Franke übernimmt dabei den eher aufbrausenden agitatorischen Part, während Josephine Köhler zumeist die gefühlsbetonten Seiten der Figur vorführt. Sylvana Krappatsch hingegen agiert aus einer distanzierten Haltung heraus. Sie übernimmt damit die Rolle einer Frau, die sich selbst in ihren Handlungen mit der Welt beobachtet und reflektiert.
Peter Fasching spielt neben seine Musikerexistenz auf der Bühne alle Männerrollen. Manchmal muss er dafür direkt von einer Rolle in die andere springen, ohne dass ihm äußere Hilfsmittel wie verschiedene Kopfbedeckungen zur Verfügung stehen. Das macht er sehr geschickt. Warum er dann allerdings in den Szenen, die in Tunesien beziehungsweise Algerien spielen, in einen Wiener Dialekt verfällt, will sich mir nicht erschließen. Seine musikalischen Kompositionen sind filmisch konzipiert, sie kreieren Atmosphären, spielen auch verfremdend mit Arbeiterliedern wie „Wacht auf, Ihr Verdammten…“. Manches Mal wird auch nur stimmungsvoll auf dem Klavier geklimpert. Wichtig für ihn ist allerdings, das Publikum mit einem Pappschild zu warnen, auf dem geschrieben steht: „Achtung, es wird laut“.
Keine leichten Antworten
Beim Einlass herrscht bereits Hektik auf der Bühne. Bühnenarbeiter und Schauspieler:innen wuseln auf der Bühne herum, die von einer mächtigen hellen Holzwand dominiert wird. Später, wenn die Drehbühne sich in Bewegung setzt, wird deutlich, dass die Wand nach vorne und an den Seiten ein Quadrat bildet mit einer offenen Seite. Zu Beginn steht diese Wand parallel zum Publikum. Es werden darauf historische Bilder projiziert, weil denn doch manchmal Fakten wie in einem Volkshochschulkurs referiert werden.
Die Spielerinnen sitzen zunächst im „Zwischen“, nicht auf der Bühne und auch nicht im Publikumssaal. Sobald sie die Szene betreten, kommt das Licht von vorne und wirft von den Personen riesengroße Schattenabbilder auf das Holz – und verdeutlicht so, dass der Mensch nur ein winziges Rädchen ist.
Pařízek arbeitet gerne mit Symbolen. Zunächst wird, als von der Hochzeit die Rede ist, ein langes weißes Tuch auf der Bühne abgelegt, dann ein rotes, als die Erzählungen über den französischen Kolonialismus beginnen. Schließlich folgt noch ein blaues Tuch, als von dem trennenden Meer die Rede ist. Gleichzeitig werden damit die Farben der Trikolore, die Farben der französischen Revolution mit ihren Forderungen Liberté, Fraternité und Egalité sinnlich auf der Bühne abgelegt. Im wahrsten Sinne des Wortes abgelegt, da das Frankreich de Gaulles keine dieser Prinzipien Annette zubilligt. Nachdem das Weltbild für Annette zusammengebrochen ist, wird voller Wut eine Wand zertrümmert. Die Drehbühne bewegt sich und nun fallen auch die Seitenwände. Annette findet keinen Halt mehr, nur noch einen leeren, zertrümmerten Ort.
Pařízek gibt – wie Anne Weber – keine Antworten auf die Annette bedrängenden Fragen. Er hat eine spannende Konzeption entwickelt, die dank des Spiels von Sarah Franke, Josephine Köhler und Sylvana Krappatsch voll zur Entfaltung kommt – und in Erinnerung ruft, wie wichtig es ist, dass es Menschen wie Anne Beaumanoir gibt.