Enrique Fiß als Hauptfigur Jens Deichel in "die bleichen Füchse" in der Garage des Theaters Erlangen

"Utopie einer von Identität befreiten Welt."

Yannick Haenel: Die bleichen Füchse

Theater:Schauspiel Erlangen, Premiere:23.09.2017Regie:Leonie Kubigsteltig

Keine Frage, ein Regienachwuchswettbewerb gehört an ein Stadttheater wie Erlangen. Denn eine Spielstätte abseits der Metropolen und ihrer großen, im Fokus der Aufmerksamkeit stehenden Häuser bietet genau das Umfeld, das junge Talente benötigen, um sich in Ruhe auszuprobieren. Die letztjährige Entscheidung des Theaters, einen solchen Wettbewerb ins Leben zu rufen, kann man also nur begrüßen. Und der Erfolg gibt den Initiatoren Recht. Schließlich konkurrierten auf Anhieb mehr als 100 Konzepte um einen der Siegerplätze, der eine Premiere in der Garage, der Studiobühne des Theaters Erlangen, garantierte. Die erste Ausschreibung stand unter dem Motto „Utopie unbekannt“. In der vergangenen Spielzeit feierte bereits Helge Schmidt, einer der beiden Gewinner, mit seinem „Weltverbesserungstheater“ Uraufführung. Nun folgte zum Auftakt der neuen Spielzeit Leonie Kubigsteltig mit ihrer Bühnenfassung  von „Die bleichen Füchse“, dem gleichnamigen Roman des französischen Autors Yannick Haenel. 

Man muss der 1981 in Nordrhein-Westfalen geborenen Kubigsteltig, die ihre Ausbildung u.a. an der Londoner „Central School of Speech and Drama“ absolvierte und hierzulande bereits am Schauspiel Frankfurt, aber auch in Kiel und Osnabrück inszenierte, für ihre Wahl des Buches Mut attestieren. Denn Haenels Roman „Die bleichen Füchse“, in Frankreich 2013 und in Deutschland ein Jahr später erschienen, ist alles andere als ein rundum gelungenes Werk. Der heute 50-jährige Haenel arbeitet sich darin vor dem Hintergrund des Todes zweier unschuldiger Jugendlicher in den Pariser Banlieues im Jahre 2005 und den daraus resultierenden Krawallen in ganz Sarkozy-Frankreich an einer Vielzahl von Themen ab. Eine Auswahl: Überwachung, Rassismus, Migration, Konsum-, Kunst- und Kapitalismuskritik, prekäre Arbeitsverhältnisse, Revolte, White Trash, Arbeits- und Obdachlosigkeit, Identitätsverlust und die Suche nach einem intensiven Lebensgefühl. Bei diesem Sammelsurium ist es kein Wunder, dass man bei der Lektüre manches Mal die notwendige Tiefe vermisst. Zum Ende hin gewinnt der Eindruck eines plakativen Pathos dann endgültig die Oberhand. Was das Buch trotzdem (und immer noch) lohnend macht, ist die Tatsache, dass Haenel Themen ans Licht gezerrt hat, die seitdem noch dringlicher geworden sind. Aber mitunter auch ihr Gesicht verändert haben. 

Europa und die Welt, so wie wir sie kennen und schätzen gelernt haben, scheinen aus den Fugen geraten zu sein. Protest liegt in der Luft. Freilich kein allein linker mehr, wie ihn Haenel mit Karl Marx in der Hand als Utopie „der Papierlosen“ am Ende imaginiert: „Jetzt verschmelzen die, denen man keine Papiere gibt, mit denen, die keine Papiere mehr haben. Jetzt gibt es keine Papierlosen mehr, weil die Papiere nicht mehr existieren. Jetzt entsteht die Utopie einer von Identität befreiten Welt.“ Heute tut stattdessen der hasserfüllte Wutbürger seinen Unmut kund, durchaus mit einst linken Protestformen im Gepäck, wie gerade Peter Richter in der SZ konstatiert hat: „Die Rechte zeigt Lernfähigkeit und bedient sich dankbar aus der Asservatenkammer der außerparlamentarischen Linken.“ Und in Deutschlands Nachbarländern regieren die Orbáns und Kaczynskis. Woran man sehr gut erkennen kann, wie rasant sich die Welt seit 2013, dem Jahr, in dem „Die bleichen Füchse“ herausgekommen ist, gewandelt hat. Statt Entgrenzung, wie Haenel sie noch propagiert, überall Grenzziehung und Abschottung im Zeichen der „Flüchtlingskrise“.  

Leonie Kubigsteltig hat es sich mit ihrer Entscheidung für Haenel also nicht leicht gemacht. Man muss ihr aber auch dankbar sein, denn ihre (sieht man einmal von den hier wirklich überflüssigen Videospielereien ab) sympathisch schlicht gehaltene Inszenierung provoziert, wie gerade beschrieben, eine Vielzahl an Fragen. Im Zentrum steht Jean Deichel, gerade arbeitslos geworden. Am Tag schlendert er durch Paris, des Nachts wohnt er im Auto, und diese Versuchsanordnung erinnert doch stark an das Buch des berühmten Ethnologen Marc Augé „Tagebuch eines Obdachlosen“ von 2012. Der dort geäußerte Satz „Ich bin nur noch eine lebende Leiche“ könnte auch aus dem Mund von Jean stammen, der von solch innerer Leere ergriffen ist, dass er ganz und gar passiv durchs Leben driftet, aber dabei keinen nur unglücklichen Eindruck macht, sondern sich irgendwie mit seiner Lage arrangiert zu haben scheint. Bis er auf Anna trifft, die ihn, und hier wird’s doch arg pathetisch, zum wilden Sex auf den Gräbern der Pariser Kommunarden von 1871 verleitet. Und bis er der Gruppe der bleichen Füchse begegnet, die für die Vernichtung aller Privatdokumente eintritt, denn: Einen Pass zu besitzen, bedeutet eine Identität zu haben, die sich überwachen lässt. Also genauso weg damit wie mit dem Handy.

Die Inszenierung, in die auch ein wenig Erlanger Stadtgeschichte eingewoben wurde, verfolgt in Gestalt Jeans die Verwandlung eines apolitischen Bürgers, der sich längst aus der Gesellschaft ausgeklinkt hat – über Wahlen kann er nur mehr lachen –, zu einem Mann in der Revolte. Enrique Fiß, der gerade seine Ausbildung am Max Reinhardt Seminar beendet hat und nun neues Ensemblemitglied am Theater Erlangen ist, spielt diesen Jean Deichel in verdreckten Espadrilles und merkwürdig braunfarbigen Schluffi-Klamotten. Um es kurz zu machen: Er ist in dieser Rolle ein Versprechen für die Zukunft. Wie er seiner Figur durch einen fulminanten Blick zwischen Verwunderung und Verzweiflung etwas Josef Hader-artiges verleiht, ist beeindruckend. Dazu noch hängende Schultern und fertig ist der Prototyp eines Verlierers. Umso erstaunlicher dann die überzeugend gespielte Wandlung zum Verteidiger der Menschlichkeit. 90 Minuten lang zieht Fiß auf der intimen Studiobühne die Blicke auf sich. Dass hier die Bühnenbildnerin Katrin Bombe noch ein angedeutetes Schwimmbad mit Rampe hineingepfercht hat, möchte man nicht für möglich halten.  

An der Seite von Fiß steht Violetta Zupancic als Rebello-Überlebenskünstlerin Anna, und sie nimmt sich, wie eigentlich immer, den Raum, den ihre Rollen benötigen. Etwas mehr führende Regiehand hätte hingegen Hasan H. Tasgin in seiner Doppelrolle als Tunte Berto und Intellektuellenfotograf Ferrandi benötigt. Was ganz sicher auch daran liegen mag, dass er als Gastschauspieler aus Berlin engagiert ist, wo er vor allem am Maxim Gorki Theater und am Ballhaus Naunynstraße auftritt.  

Fazit: Runde Eins des Regienachwuchswettbewerbs kann man alles in allem als sehr geglückt bezeichnen. Fortsetzung folgt in dieser Spielzeit. Thema diesmal: Klima.