"Ur" am Münchner Residenztheater

Ursachenforschung

Sulayman Al Bassam: Ur

Theater:Residenztheater, Premiere:28.09.2018 (UA)Regie:Sulayman Al Bassam

Eine antike Herrscherin; ein Trupp Archäologen zu Beginn des 20. Jahrhunderts; Kämpfer des IS im Jahre 2015 und zukünftige Bewohner der Erde: das Personal von „Ur“, dem Stück, dessen Uraufführung der kuwaitische Autor Sulayman Al Bassam jetzt selbst im Münchner Marstall inszeniert hat, ist breit aufgestellt. Am Beispiel der antiken mesopotamischen Stadt Ur untersucht er den Lauf der Zeit, ja vielleicht: die Geschichte der Menschheit. Ein Ort, vier Zeiten. Ein Panorama, das den Zeitraum von 2004 vor Christus bis 2035 nach Christus umspannt. Die vier Zeitebenen, zwischen denen die Inszenierung hin- und herspringt, markieren wesentliche Etappen dieses Ortes: die ausgegrabene Zeit, die ausgrabende, die zerstörende (die die unsere ist) und die zukünftige. Ein ehrgeiziges Unterfangen.

Eric Soyer und Anne Marcq haben dafür eine schlichte Einheitsbühne in den Marstall gebaut: ein an zwei Seiten durch Wände begrenzter Betonsteg, der den Zuschauerraum in zwei Teile teilt, eine kühle und kahle Trasse. In den Ur-Zeiten rieselt feiner Wüstensand von der Decke, in der Zukunft wird die Vertiefung der Ausgrabungen im Boden mit einer Platte zugedeckt. Wenn die Archäologen auftreten, hört man die Mücken summen, als stünde man selbst auf einem heißen Ausgrabungsfeld irgendwo im Orient.

Man sieht die Göttertochter und Herrscherin Nin-Gal, die mit Poesie auf die sie umgebende Gewalt reagierte und ihre Untertanen anwies, Gedichte zu schreiben und sich zu lieben statt die Stadt gegen ihre Angreifer zu verteidigen. Make love, not war. Lara Ailo steht im goldenen Kleid auf der Bühne, die Hände trotzig zu Fäusten geballt, und begehrt gegen ihren traditionellen Vater und den Rest der sie umgebenden Welt auf. Später wird sie eine Ansprache an ihr Volk halten, mit künstlich verlängerten Armen einer Göttin gleich, und von Poesie und Liebe sprechen, wo nur noch Krieg ist.

Man sieht die deutschen Archäologen 1903 die Reste der Stadt Ur ausgraben und über ihre Funde streiten. In beigen Anzügen pinseln sie über die Steine, auf denen gerade noch Nin-Gal und ihre Gefährten standen, halten  einander und dem Publikum Vorträge – und wirken leider allzu klischeehaft. Man sieht, wie 2015 Mitglieder des sogenannten IS die Ausgrabungen zerstören wollen. Schwarz vermummt drehen sie ein Hinrichtungsvideo und bringen einen Sprengsatz an der Ausgrabung an, der jedoch nicht zündet. Und man sieht die Bewohner einer Zukunft, in deren Leben und Lieben im Jahre 2035 eine Büste von Nin-Gal herumspukt. Kurz: Man sieht sehr viel an diesem nur 90 Minuten langen Abend. Möglicherweise zu viel.

Denn diese konstruierte Inszenierung ist nicht rund: mal flieht sie in eine Poesie, die ihr die Brisanz nimmt. Dann wieder wirkt sie mit all ihrem wissenschaftlichen Impetus  belehrend, ohne dass man so genau weiß, was man hier lernen soll. Das Ensemble aus arabischen und deutschen Schauspielern spricht im Wechsel deutsch, arabisch und englisch, die gerade nicht gesprochenen Sprachen werden in Übertiteln eingeblendet. Doch wie einiges andere erschließt sich der Wechsel zwischen den Sprachen nicht immer, oft wirkt er einfach bemüht.

So ist da trotz der Menge an Themen und der Kürze des Abends jede Menge Wiederholung und Leerlauf. Zu viel wird nur angerissen, um sich wirklich dafür zu interessieren. Zu viel bleibt Behauptung, ohne sich mit Leben zu füllen. Die antiken Szenen nehmen den meisten Raum ein, während der Gegenwart nicht mehr als eine Komparsenrolle zukommt. Diese Gegenwart besteht aus IS-Kämpfern, die dreimal durchs Bild springen und zu doof sind, einen funktionierenden Sprengsatz anzubringen. Sie mutieren zu Witzfiguren, bieten eine passable Slapstick-Nummer – aber: Was will das erzählen? Wäre es nicht gerade interessant, den Bogen von Ur zu uns zu spannen? Zu fragen, was geworden ist mit „love, not war“? Natürlich: Ur ist die Ursache, die Urgeschichte von allem – alles reibt sich an ihr, alles begründet sich in ihr. Dennoch geht es ja im Theater immer auch und vor allem um den Bezug zur Gegenwart, zur das Theater umgebenden Gesellschaft. Und der kommt hier zu kurz.