Foto: "Die menschliche Stimme/Herzog Blaubarts Burg" am Staatstheater Wiesbaden. Julia Migenes © Monika und Karl Forster
Text:Björn Hayer, am 20. April 2015
Die Musik pendelt über dem Abgrund. Streich- und Zupfinstrumente ringen um eine verlorene Mitte. Und sobald sich das harmonische Gefüge kurzerhand gefunden zu haben scheint, droht es zugleich wieder zu kippen. Was wir hören, ist das Klanggebaren einer haltlos gewordenen Existenz. Thorleifur Örn Arnasson führt uns in seiner Inszenierung der lyrischen Tragödie „Die menschliche Seele“ von Francis Poulenc am Hessischen Staatstheater Wiesbaden in einen Raum einsamer Urbanität. Rings um die Protagonistin (Julia Migenes) der Ein-Personen-Oper liegen die Scherben eines aus dem Lot geratenen Lebens. Koffer, Bilderrahmen und gleich mehrere Telefone, mit denen die Großstadtneurotikerin einen Kontakt zur Außenwelt herzustellen hofft. Sie berichtet von ihrer Zerrissenheit, von ihren Suizidversuchen. Ob sich am Ende der anderen Leitung überhaupt Zuhörer befinden, bleibt fraglich. Denn der innere Monolog, getragen von melancholischem Gesang und zerklüftetem Instrumentallamento, entpuppt sich zunehmend als eine bloße Selbstbespiegelung. Verstärkt werden Aporie und Weltuntergangsstimmung durch das klaustrophobische Bühnenbild. Das Zimmer der Heldin ist ein Kasten, der wie eine Vitrine aus der Kulissenwand hervorragt. Ein Gefängnis ohne Fenster.
Dieses ohnehin undramatische Werk, das den avantgardistischen Bruch mit jeglicher klassischen Handlungslogik umsetzt, aufs Parkett zu bringen, gleicht einer inszenatorischen Herkulesaufgabe, die in Wiesbaden tatsächlich geglückt ist. Vor allem die Aktualisierung durch die heutige Mediengesellschaft verleiht dem Stück eine erschreckende Virulenz. Mal sehen wir die Protagonistin mit der Kamera aus der Vogelperspektiv, ein andermal spricht sie in den Spiegel hinein, der im Grunde genommen einer Desktopkamera gleicht. Denn ihr trauriges Konterfei projiziert sich situativ über die gesamte Bühnenwand. Obgleich wir heute in den digitalen Medien glauben, ganz im Netz der globalen Kommunikation zu sein, bleiben wir darin doch einsame Vagabunden – so die triste Botschaft dieser zwar zähen, aber berührenden Seelenstudie.
Von der Macht des Virtuellen erzählt gleichsam der zweite Teil des Abends, Uwe Eric Laufenbergs überzeugende Aufführung von Béla Bartóks einziger Oper „Herzog Blaubarts Burg“. Hierin lässt sich die junge Schönheit Judit (Vesselina Kasarova) von dem geheimnisvollen Fürsten (Gerd Grochowski) verführen und verliert sich in einem Strudel aus Lügen, Rätseln und Imagination. Als sie seine sagenumwobenen acht Zimmer einsehen möchte, erkennt sie via Laptop als erstes die Folterkammer. Dass sich derweil der trichterähnliche Flur flexibel zusammenschieben oder aufweiten kann, zeugt von einem kaum fassbaren Märchenschloss, wundersam und bedrohlich zugleich. Selbst sein Reich, dem sie hinter einer weiteren Tür offenbart, erscheint schließlich als riesige Wandfotografie am hinteren Ende des Spielraumes – ein Wahrnehmungsereignis, das Zsolt Hamar samt seinem Orchester in monumentaler Tongewalt begleitet. Hierin äußert sich Bartóks kompositorische Gewalt, die sich zuvor in stakkativen Episoden langsam aufbaut, um sich zuletzt ventilartig zu entladen.
Die mediale Schimäre ist somit allgegenwärtig. Einzig Judits Tod, ein erwartbarer Akt der Besitznahme durch den omnipotenten Patriarchen, markiert den letzten Rest an Wirklichkeit. In Wiesbaden wird die klassische Moderne somit postmodern, ohne den epochalen Kern der Werke zu verraten. Man wird zweier bewegender Gratwanderungen gewahr, die eines klar zeigen: Nichts ist so zeitlos fragil wie das menschliche Dasein.