Foto: Siegfried (Ronald Samm, M.) stirbt, Gunther (Sebastian Campione) sieht allein zu. © Jens Großmann
Text:Andreas Falentin, am 17. September 2017
Während des ganzen Trauermarsches stirbt Siegfried. Er liegt nicht tot da und wird nicht vom Herrenchor aufgebahrt oder davon getragen wie sonst immer. Er röchelt und zuckt, vergiftet und in den Rücken gestochen, und einer der Chorherren nach dem anderen geht einfach weg. Immer wieder streckt der Sterbende die Hand aus. Keiner ergreift sie. Siegfried, der freundliche Fremde, der naive Held, stirbt einsam, betrachtet nur von dem kraftlosen, deprimierten Gunther, unbegleitet, außer von Wagners Musik. Die spielt das Sinfonieorchester Wuppertal nicht nur hier wie ein Spitzenklangkörper. Johannes Pell gibt ihr Struktur und Klangsinnlichkeit und disponiert grandios fließende dramatische Steigerungen. Und er nimmt dem Trauermarsch alles romantisch Pompöse und formt ihn zur wütenden Anklage um.
Dass wir Zuschauer diese hören und geradezu als Paradigmenwechsel erleben dürfen, liegt sicher auch an der ungewöhnlichen Kombination eines einzelnen Wagner-Aktes, des letzten aus dem „Ring“, mit Teilen aus Heiner Goebbels‘ „Surrogate Cities“. Dieser Zyklus von Orchesterstücken, teilweise mit Gesang, entstand in den 90ern zur 1200-Jahrfeier der Stadt Frankfurt am Main und beschäftigt sich mit dem Leben in der Stadt, seinen Segnungen und Gefährdungen und, natürlich, mit Individuum und Masse. Und setzt jetzt die Themen für Jay Scheibs hochintelligentes Konglomerat.
Die erste Überraschung gibt es beim Einlass. Alle Musiker sind weiß gekleidet, die Herren in Dinner-Jacket mit Fliege, die Damen in eleganten Roben. Die Streicher sitzen im abgerundeten, hochgefahrenen Orchestergraben, die Bläser und Schlagwerker im hinteren Teil der Bühne. Dazwischen eine enge Spielfläche auf zwei Ebenen, das Skelett einer Wohnung: eine billige Küche, eine klitzekleine Sitzecke, ein Badezimmer mit Kleiderschrank. Auf diesem schmalen Brettl ereignet sich von Anfang an, von den ersten Tönen von „Surrogate Cities“ alles und nichts, unendlich viele kleine Bewegungen und Handlungen, akzentuiert durch die Live-Kamera, die Bilder auf zwei Leinwände transportiert, denen gelegentlich von der Technik Fremdmaterial beigemischt wird. Von Anfang an scheinen Wagners Figuren präsent.
Ein Mann in Motorradkluft betritt die Bühne, verdreckt von Schlamm. Er zieht sich aus, duscht sich, zieht ein Hemd an, greift sich einen Ring aus dem Schlamm, der sich in der Duschtasse gesammelt hat, steckt wütend Blumen hinein, schiebt Spielzeughäuser zusammen. Und auf der anderen Seite erscheint eine Frau in Weiß, fast ein Kind noch wohl, desorientiert. Sie sieht das Schwert an, das da in der Wand hängt, als wär’s wie in der „Walküre“. Wer sind die zwei? Viele Figuren aus dem „Ring“ scheinen in Frage zu kommen. Der Mann ist wütend, scheint’s, und er denkt an seine Vergangenheit, wühlt in Schallplatten, wählt zwischen Soltis, Karajans, Janowskis „Rheingold“ aus und das Orchester unterbricht Heiner Goebbels und spielt ein paar Takte „Rheingold“ – Beginn in Endlosschleife. Dann greift der Mann zum Speer. Es ist Hagen. Ein junger, wütender Mann, aufgefressen vom Rhythmus des Erfolgs, an einem Ort, wo Erfolg wichtig ist, wo das Selbstbewusstsein über die Arbeit und über das Dazugehören entsteht. Wir verstehen das, auch seinen Hass auf das Fremde, auf die, die nicht dazu gehören müssen, die, die nicht Weiß tragen, auf den freundlichen, souveränen Siegfried, der noch seinen schwarzen Hochzeitsanzug trägt und auf die wilde, coole, in Schwarz gekleidete Brünnhilde. Wir verstehen es, ohne dass mit Aktentaschen oder Smartphones herumgewedelt werden muss. Und Lucia Lucas, Frau und Bariton, beglaubigt das durch ihren Gesang, klar fokussiert, aber verwundbar, ohne Bassesschwärze und bonhommitische Gemütlichkeit. So erschaffen alle Sänger an diesem Abend Figuren, ohne sie illusionistisch darzustellen.
Durch die ungewöhnliche Staffelung des Orchesters und die unterschiedlichen Klangideen von Goebbels und Wagner ergibt sich die Notwendigkeit von elektronischer Verstärkung. Und die Mikrophone legen, quer durch nahezu alle Solisten- und Orchesterstimmen, erbarmungslos Intonationsunreinheiten offen. Aber das hemmt den Genuss kaum, scheint, im Gegenteil, genau wie die wenigen szenischen Momente, die schlicht ins Leere gehen, die Lebendigkeit dieser Aufführung sogar zu verstärken. Wir schauen über weite Strecken keinen Opernfiguren zu. Es gibt keine Standardgesten, kein Tun als ob. Eine Rose ist eine Rose und nie zwei. Die Rheintöchter sind in billiges Goldlametta gehüllt und mit noch billigeren Gebissen ausgestattet. Man weiß nicht, ob sie den Ring nur wieder haben wollen, weil er so schön funkelt, oder weil man Drogen dafür kaufen kann. Sie haben Spaß auf der Bühne und mit der Musik und buhlen nicht einen Augenblick um unsere Gunst.
Wuppertal hat ein fantastisches Ensemble zusammengestellt. Von Roland Samm, der mit etwas fest sitzender Stimme, einen lebendigen, sympathischen Siegfried erfindet über Annemarie Kremer, deren Brünnhilde deutlich nach mehr klingt, bis hin zur Gutrune von Jenna Siladie, die mit ihren wenigen Noten zu Herzen geht wie selten und Sebastian Campione, der als Gunther noch weniger zu singen hat, aber mit vielen Großaufnahmen und noch mehr Bühnenpräsenz auch seine Figur ins Zentrum rückt: überall Leidenschaft, Musikalität, Leben.
Und am Ende macht Jay Scheib die Mühle wirklich zu. Der letzte Ton der „Götterdammerung“ ist verklungen. Das Publikum will vermutlich klatschen, auf jeden Fall atmen. Da sticht Johannes Pell erneut ins Orchester, die durchaus klassisch geschulte Soul- und Gospelsängerin Elisabeth King erscheint und singt mit großer Projektionskraft die „Horatian Songs“ aus „Surrogate Cities“, erzählt also mit einem Text von Heiner Müller eine Episode aus der antiken Sagenwelt, wo der Held aus fanatischer Vaterlandsliebe zum Mörder wird. Er wird geehrt und dann hingerichtet. Und beides gehört zusammen, zum Menschen und darf nicht verschwiegen werden, singt Elizabeth King. Mit diesem Statement, das uns nachdrücklich darauf aufmerksam macht, dass es neben der überbordenden Experimentierfreude um Haltung gegangen ist an diesem Abend und dass auch wir, gerade in dieser Zeit, wohl auch eine Verantwortung, eine Pflicht zur Haltung haben, schließt Scheib nicht nur den Abend, sondern auch unmittelbar an das Theater und die Ideen von Bertolt Brecht an. Und ist es nicht hochinteressant, dass er ausgerechnet dort die Schnittmenge von Richard Wagner und Heiner Goebbels ermittelt hat?