Foto: Liebesgesang © Tanja Dorendorf
Text:Jasmin Goll, am 1. Juni 2024
Tobias Kratzers Inszenierung von Georg Friedrich Haas‘ „Liebesgesang“ an den Bühnen Bern ist so nuancenreich wie die Darbietung der beiden Sänger:innen. Die Oper erzählt von einer auf den Prüfstand gestellten Liebesbeziehung.
Im dritten Rang zu sitzen, ist bei dieser Produktion attraktiver als sonst. Rainer Sellmaier (Bühne und Kostüme) hat für die Uraufführung von „Liebesgesang“ im Rang-Logen-Theater eine Arena-Situation errichtet. In diesem Bühnenraum schauen wir voyeuristisch von oben herunter auf den tiefsten Punkt im Saal des Berner Stadttheaters: den Orchestergraben. Oder Graben. Ein Orchester gibt es tatsächlich gar nicht in Georg Friedrich Haas‘ neuer Oper „Liebesgesang“.
Eine Sängerin und ein Sänger okkupieren den Graben und bestreiten den 90-minütigen Abend, in dem es keinen Moment des Ausruhens gibt, zu zweit. Haas präsentiert damit seine Minimaldefinition von Oper, in der Gesang alleine trägt. Das Duo Haas und Händl Klaus haben – nach „Bluthaus“, „Thomas“ und „Koma“ – erneut für ein Auftragswerk zusammengespannt und schaffen eine Oper einzig aus einem Liebesduett – pur, nackt, existentiell. Ein:e sichtbare Dirigent:in gibt es nicht. Claudia Chan hat das Stück musikalisch mit Claude Eichenberger (SIE) und Robin Adams (ER) einstudiert. Während der Aufführung gibt sie ihnen jedoch nicht durch Gesten, sondern anhand von Lichtsignalen, die auf Bildschirmen und Röhrenfernsehgeräten in den szenischen Raum eingebunden sind, aus der Ferne Orientierung (Licht: Christian Aufderstroth). Die beiden Protagonist:innen sind auf sich selbst zurückgeworfen. Und das nicht nur musikalisch.
Bewährungsprobe für die Liebe
Händl Klaus‘ Originallibretto erzählt von einer von Krisen geschüttelten Beziehung. ER, so die archetypische Bezeichnung, durchlebt eine Psychose, spricht oft in wirren Sätzen, tigert im Graben herum und taumelt unberechenbar zwischen extremen Gefühlszuständen. SIE erinnert ihn – zunächst mit einer Engelsgeduld – an sein Leben vorher, bringt ihm sein Lieblingsbrot, einen Bildband, wiederholt empathisch seine Wortfetzen und stellt keine Fragen.
Schließlich aber bricht es aus ihr heraus: Ihre Wut über sein langes Verschweigen der Krankheit, über einen unerfüllten Kinderwunsch, eine Krebserkrankung bringt sie zum Seufzen, Weinen, Schluchzen, Schreien. Claude Eichenberger beherrscht mit Durchschlagskraft und feiner Nuance die Haas’sche Gefühlspalette. Robin Adams begibt sich mit ebenso großem Einsatz in die Loopings dieser emotionalen Achterbahnfahrt, röchelt, pfeift, vibriert in sonorer Tiefe, schmettert seinen Bariton in den Raum. „Liebesgesang“ setzt nicht das schwärmerische Bekunden und Rückversichern zweier Liebender in Musik, sondern das gemeinsame Ertragen und Durchstehen aller Widrigkeiten.
Und dafür haben sie eine gemeinsame Sprache gefunden. Es braucht dazu kaum Blickkontakt und der genaue Wortlaut ist nahezu zweitrangig. Musik ist ihr Kommunikationsmittel. Haas hat ein musikalisches Abhängigkeitsverhältnis komponiert: Die Tonhöhe spielt keine Rolle. Die Partien können, dürfen sogar für andere Stimmgattungen transponiert werden, aber die Tonabstände zwischen beiden sollen exakt sein und das hat es in sich. Claude Eichenberger und Robin Adams nähern sich in Mikrotönen (bis zur Achtelnuance) an, erden einander mit Liegetönen, vollführen gemeinsame Glissandi und werden dieser fordernden Partitur beeindruckend und unermüdlich gerecht. ER und SIE vertrauen auf ihre kommunikativen Codes als Paar, die wir als Publikum nicht entschlüsseln können, aber doch verstehen, dass diese berührend vertraute, tiefe, innige Verbindung robust genug sein kann, obwohl beide am Limit sind.
Nuancenreiche Regie
Die Regie (Tobias Kratzer, Mitarbeit: Matthias Piro) ist so nuancenreich wie der Gesang der beiden. Aus dem von der Psychose gezeichneten Leben von IHM scheinen alle Farben geschwunden. Der in Schwarz-Weiß gehaltene Bühnenraum ist haltloser White Cube, klinisches Krankenhauszimmer, verlassenes Haus und Arena (oder laut Kratzers lokaler Referenz, Berner „Bärengraben“) zugleich. Die geschickte Personenregie aus dem Blickwinkel lässt den Bühnenraum manchmal selbst als Bildschirm erscheinen. Kratzer verweigert eine konkrete Verortung, genauso wie er auf die Darstellung einer diagnostizierbaren Symptomatik verzichtet. Die auf den Röhrenfernsehgeräten flimmernden Tieraufnahmen (Video: Manuel Braun, Jonas Dahl) sind nicht nur Reminiszenzen an die einstige Karriere des Protagonisten als Tierdokumentarfilmer.
Animalisch geht es auch zwischen den beiden zu. Der Graben wird zur Arena, in dem vor allem SIE zur überlegenen Dompteurin wird, die IHN mit den Kabeln des Fernsehers bändigt, und Handgemenge oft schlagartig in liebevolles Berühren übergehen. Kratzer arbeitet diese Beziehung fein heraus, findet kluge Verwendung für die Vieldeutigkeit von Requisiten und Bühnenelementen im szenischen Vorgang und gibt der emotional überspannten Artikulation szenischen Sinn.
Trotz aller emotionalen Extreme erzählt „Liebesgesang“ nichts Außeralltägliches, im Gegenteil: Es ist eine Liebesbeziehung, die durch Erkrankung, enttäuschte Erwartungen, Lügen auf den Prüfstand gestellt wird. SIE steigt am Ende in den Zuschauerraum hinauf und verlässt seine Schwarz-Weiß-Welt durch denselben Ausgang wie das Publikum später. Sie sehen sich zwar nicht mehr, bleiben aber klanglich in Kontakt. Das ist keine Trennung. Die Verbindung hält.