Foto: Hinter Glas: Schauspielerin Lise Wolle im Oberhausener Schaufenster © Isabel Machado Rios
Text:Jens Fischer, am 1. Mai 2020
Ein Werk der Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek in all seiner sprachspielerischen Eleganz, moralischen Empörung und assoziativen Dynamik eines offen diskursiven Gedankenstromes. Eingebunden in einen Audio-Walk, einen Spaziergang in der Öffentlichkeit. Mit richtigen Schauspielern. Live! Zwar „garantiert kontaktlos“, wie es auf den Plakaten heißt, aber mit Augenkontakt im direkten Gegenüber unmaskierter Menschen. Ja, wie toll ist das denn in unseren pandemischen Zeiten, die „Prinzessinnendramen“ open air zu erleben. Das Nachdenken über Schneewittchen, Dornröschen und Rosamunde hat Paulina Neukampf für das Theater Oberhausen inszeniert. Geplant war das für die Raumbühne des Hauses, im Heimeligkeitsterror eines Wohnzimmerbühnenbildes. Nach dem bundesweiten Verbot, Theater zu spielen und gemeinsam zu proben, produzierten die Schauspieler daheim den Text in monologischen Videoclips. Sind damit aber nicht online gegangen, wie derzeit üblich, sondern suchten die Ko-Präsenz des Publikums. Und fanden glücklicherweise Behördenmitarbeiter, die nicht reflexartig jedwede Kunstdarbietung vor Zuschauern verbieten, sondern wohl etwas möglich machen wollten gegen verordnete Kulturödnis und Homeoffice-Koller.
Vor dem natürlich geschlossenen Lichtburg-Filmpalast, Austragungskino der dort natürlich abgesagten Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen, geht es los. „Schneewittchen“ steht auf dem Programm, kleine grüne Kreidezwerge auf dem Boden weisen den Weg. Um Übertragung versteckter Viren durch Berührung zu verhindern, bringt jeder Besucher sein eigenes Smartphone plus Kopfhörer mit, der Download-Link für die Audio-Datei wurde mit der Ticketbuchung zugesandt. Zu zweit im Zehn-Minuten-Takt geht es auf die Reise. Hinein in eine finstere Passage, ein inoffizielles Pissoir. Hügel ausgespuckter Kaugummis und Kippen zieren den süffigen Boden, eine Distel reckt sich an der Hauswand empor, Schaufenster sind vom angrenzenden Büro der Partei Die Linke mit Parolen wie „Nicht flehen, nicht betteln, kämpfen!“ geschmückt, Kinderkunst hängt auch herum, ein Penis wurde daneben gesprayt. Bienchen und Vögel konzertieren derweil in der Soundcollage, die Schneewittchen-Stimme erzählt, nicht mehr prinzessinnenschön, märchenhaft edel und mädchenbrav ihr Glück in Form eines Prinzen zu suchen. Wahrheitssucherin will sie sein hinter den sieben Bergen bei den sieben Zwergen. Stattdessen meldet sich aber ein Jäger zu Wort: „Ich bin der Tod und aus. Der Tod ist die ultimative Wahrheit.“
Daniel Rothaug, als Künstler kenntlich am Theater-Oberhausen-Beutel auf der Schulter, lungert um die beschallten Zuschauer herum, wirft in nachlässiger Arroganz mit Sonnenblumenkernschalen, kickt eine Energydrink-Dose, fixiert die Menschen unter den Kopfhörern herausfordernd. Ist er der Jäger? Hassobjekt Macho? Das Prinzip Mann? Aber so schlicht setzt die Inszenierung nicht auf Konkretisierungen der obsessiven Sprachkunst. Es sind eher atmosphärische und symbolische Bilder, die Neukampf in den Stadtraum implantiert hat, um das mal philosophisch aufbrausende, mal kalauernd geerdete Mäandern der Jelinek-Reflexionen über weibliches Sein zu ergänzen.
Kontrastiert werden die komplex verzweigten Wortgespinste von der trostlosen Wirklichkeit Alt-Oberhausens, das durch den Walk zur „Kulisse, zum begehbaren Kunstwerk“ werden soll. Sieche Fassaden, Leerstände ohne Ende, hier ein Leihhaus, dort Billigschmuckläden. Ein-Euro-Shops werben mit dem Hinweis: „Bis zu 70 % reduziert“. Ein Obdachloser schiebt seine Habseligkeiten in einem Einkaufswagen vorbei, Rentner schleichen mit Rollatoren vorüber, lauthals wird in babylonischem Sprachgewirr telefoniert, nicht einmal Eisläden haben Kundschaft, nur vorm Discounter steht eine Menschenschlange. Reale Klischees lähmender Armut. Das neu errichtete Jobcenter ist der einzige Prachtbau der zentralen Marktstraße. Schon ein exklusives (zynisches?) Vergnügen, sich mittendrin mit Gender-Konstruktionen und intellektuellem Sarkasmus zu beschäftigen. Künstlerisch wertvoll ausgereift ist bei den „Prinzessinnendramen“ für Flaneure nicht alles, aber ein kunstfertig vitaler Triumph gegen die aktuellen Verbotsorgien sind sie allemal.
Weiter geht es, vorbei am Apothekerhaus, in dem Christoph Schlingensief aufgewachsen ist, und seiner Messdiener-Heimat, der Herz Jesu Kirche am Altmarkt. Ab in den Hinterhof des Künstlercafés Gdanska Teatr, wo Agnes Lampkin sich aus einer Hollywoodschaukel schält, ebensolches mit einem Apfel macht und dabei so infernalisch wie stumm lacht, während die Zuschauer Schneewittchen von der Macht ihrer Schönheit erzählen hören, gegen die sich die weniger schöne Stiefmutter mit dem vergifteten Obst wehrt. Im Schaufenster einer Perückenmacherin sitzt Lise Wolle mit erlösungsrotem Kussmund sowie selbstverliebtem Gekämme wie in einem gläsernen Sarg und kämpft mit den Puppen der Auslage um den coolsten Blick. Sie schmiegt ihren Körper, haucht ihren Atem an die Glasscheibe, scheint vor Kontaktsehnsucht zu vergehen. Zurück zum Altmarkt. Im wohnzimmerkitschig hergerichteten Stadtpavillon, an dem die Bewohner des Platzes ihre Wodkaflaschen geparkt haben, kuschelt Susanne Burkhard mit einem Bügeleisen, löst Kreuzworträtsel, blickt verloren aus der Haushaltsödnis ins Freie. Während ein kiffender Jungdealer von einem schimpfenden Profitrinker mit einem Regenschirm geschlagen wird, um irgendwelche fünf Euro geht es laut dem Streitgeschrei. Jelinek ist längst nicht mehr zu hören, das leidende Schneewittchen im Glaskasten längst nicht mehr im Blickpunkt – hier, mitten im Leben. Wo das Theater spielt. Trotz Corona.