Laia Vallés und Elliott Carlton Hines als Elisabeth und Paul, links ein turnender Jugendlicher

Unter Beziehungsdruck

Philip Glass: Les Enfants Terribles

Theater:Staatsoper Stuttgart, Premiere:12.03.2022Regie:Corinna TetzelMusikalische Leitung:Virginie Déjos

Diese Aufführung lebt von Gegensätzen – weiße, stilisierte Interieurs in der Black Box des JOiN, turnende Jugendliche und singende Erwachsene. Und sie lebt vom Umgang mit der Musik. Dem Dirigat von Virginie Déjos ist es zu danken, dass Philipp Glass‘ Musik als in Wellen verlaufende Spannungskurve erlebbar wird, dass sich, und das in großer Ausdrucksbandbreite, musikalisch förmlich eine Schlinge zuzieht. Und das, obwohl der „Klangkörper“ bei „Les Enfants Terribles“ nur aus drei Konzertflügeln besteht, die Yuri Aoki, Ugo Mahieux und Christopher Schumann mit einem Höchstmaß an Präzision und Klangfantasie traktieren.

Verschwimmende Geschlechterrollen

Auf der Szene geht es um das Geschwisterpaar Paul und Elisabeth, das eine sehr enge Beziehung hat, die noch dichter wird, als Paul von einem Schneeball verletzt wird und Dargelos trifft, von dem er sich angezogen fühlt. Dieser verschwindet dann. Später erscheint Agathe, fast eine Doppelgängerin. Dazu kommt Pauls Freund Gérard, der heimlich in Elisabeth verliebt ist. Zentrum der Handlung ist in Corinna Tetzels Inszenierung das gemeinsame Zimmer von Elisabeth und Paul. Es ist schneeweiß und wird aufgeklappt wie eine Pappschachtel. Hier zieht sich die Schlinge zu, verschwimmen die Geschlechterrollen, ahnt man irgendwann nur noch, wer hier wen liebt. Außer Elisabeth, die sich im Existenzialistenoutfit als – wohl auch eifersüchtige – Spielleiterin aufführt, stehen alle Beteiligten unter furchtbarem emotionalem Druck. Das Ende bleibt dennoch offen.

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Um das Zimmer und eine – gleichfalls weiße, gleichfalls stilisierte – Fassade herum blickt man auf Turngeräte: Ringe, einen Barren, einen Sprungbock, eine Mattenbahn. Die Aufführung ist eine Koproduktion mit dem Schwäbischen Turnerbund und wird nach den Stuttgarter Aufführung in Turnhallen zwischen Böblingen und Michelbach gespielt. Acht Jugendliche absolvieren während des dramatischen geschehens Turnübungen, größtenteils präzise und virtuos, jeweils mit Gruß vorher und hinterher. Das passt einfach hervorragend zu dieser Musik, es wirkt ganz natürlich, ganz „normal“. Pfiffe aus einer Trillerpfeife verweisen am Anfang darauf, dass diese Normalität Hierarchien unterworfen ist, dass jene innige Ko-Existenz, die Elisabeth und Paul ursprünglich anstreben, gar nicht gelingen kann.

Herausragendes Ensemble

In Corinna Tetzels Inszenierung gibt es viele Kleinigkeiten, viele Requisiten, viele Kostümwechsel. An einigen Stellen wäre weniger mit Sicherheit mehr gewesen. Immer wieder sieht man sich einem Symbol gegenüber, kann ihm aber weder Atmosphäre noch Bedeutung zuweisen. Dass das die Aufführung nicht wesentlich beschädigt, liegt daran, dass die Regisseurin nie gegen die Musik inszeniert, sondern im Gegenteil in vielen Momenten gerade versucht, diese hörbar zu machen. Und weil alle an der Aufführung Beteiligten mit Überzeugung zu tun, was sie tun. Herausragend das Sängerensemble: Der ausdruckstarke Elliot Carter Hines mit virilem, aber angenehm schlank geführtem Bariton; die wandlungsfähige Judith Beifuß mit leicht anspringendem Mezzosopran und angenehm direktem Spiel als Dargelos und Agathe; Phillipp Nicklaus als Gérard mit frischem, sehr gut fokussiertem Tenor; schließlich Laia Vallés als Elisabeth, die über ein eigenwilliges, kostbares Sopran-Timbre verfügt und mit Stimme und Körper so intensiv gestaltet, dass man sich von der unterschwelligen Aggressivität der Figur geradezu körperlich angegriffen fühlt.