Das Interrobang-Kollektiv an der Arbeit

Unser virtuelles Kind

Interrobang: Familiodrom

Theater:Sophiensaele Berlin, Premiere:08.12.2020 (UA)Regie:Till Müller-Klug, Lajos Talamonti, Nina Tecklenburg (Konzept)

Gestatten: Emilia, unsere Tochter. Am Anfang des Abends wird sie geboren, an dessen Ende ist sie 14. Wir wissen nicht, wie groß sie ist oder welche Haarfarbe sie hat. Und doch haben wir, das Publikum von „Familiodrom“, Emilias Leben maßgeblich beeinflusst. Denn die Performancegruppe Interrobang macht das Publikum im interaktiven Livestream der Sophiensäle zu einem Elternkollektiv, das per Zoom laufend über Fragen von Emilias Erziehung ab- und damit ihre Entwicklung bestimmt. Das Stück basiert auf Rousseaus pädagogischem Hauptwerk „Émile oder über die Erziehung“, in dem der Philosoph und Pädagoge 1762 anhand seines fiktiven Nachkommens Emile darlegte, was gute Erziehung seiner Meinung nach ausmacht.

Zuerst gilt es für das Elternkollektiv also einige Rahmenbedingungen festzusetzen: „Wo wird euer Kind aufwachsen?“, steht auf dem Bildschirm, unterlegt von lebhaften Techno-Beats (Musik: Friedrich Greiling). Während die Online-Abstimmung läuft, klettern bunte Balken den schwarzen Zoom-Hintergrund hinauf und es zeichnet sich schnell ab: Emilia wird in ein sozialökologisches Milieu hineingeboren werden und unter mehrheitlich weißen Menschen aufwachsen. „Gleich werden wir euer Kind zur Welt bringen“, heißt es daraufhin. Wo? Am liebsten im Krankenhaus, entscheidet das Elternkollektiv. Ein Jahr später: Wird Emilia noch gestillt? Kriegt sie das Frucht-Quetschie, nach dem sie verlangt? „Quetschie! Quetschie!“, skandiert Performerin Bettina Grahs und versucht, für den Wunsch der kleinen Emilia Stimmung zu machen. Nichts zu machen, das Publikum sagt nein. Weil: eh nur unnötiger Verpackungsmüll. „Ok, ihr seid hart“, stellt Grahs resigniert fest.

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Was sich nach totaler Kontrolle anhört, ist ein Erziehungsexperiment der Interrobang-Mitglieder Nina Tecklenburg, Till Müller-Klug und Lajos Talamonti. Sie haben sich auf partizipative Theaterformate mit oft ungewissem Ausgang spezialisiert. Auch beim „Familiodrom“ geht jeder Abend anders aus, und aus Emil(ia) wird damit auch jedes Mal ein anderer Mensch. Das Publikum übernimmt immer wieder neu die Verantwortung Erziehender, diesen Menschen zu formen. Einfluss nehmen können die Zuschauenden nicht nur in den am laufenden Band stattfindenden Abstimmungen, sondern sie können sich auch direkt mit Bild und Ton im Meeting zu Wort melden.

So zum Beispiel bei der Frage nach der gewünschten Schulform. Soll Emilia auf die öffentliche Grundschule? Oder doch auf die bilinguale „Urban Global School“? Dort kann sie einen wertvollen internationalen Abschluss erwerben, argumentiert eine Zuschauerin. Eine andere hält dagegen und befürchtet, dass Emilia dann in einer elitären Bubble gefangen wäre. Die Diskussionen wie die Abstimmungen moderieren Bettina Grahs und Lajos Talamonti leichtfüßig und flüssig und gehen dabei Improtheater-mäßig, spontan auf die Entscheidungen des Publikums und den dadurch geprägten Verlauf von Emilias Leben ein.

Auch schildern die beiden lebendig spezifische Ausgangssituationen, auf denen die Abstimmungsfragen basieren. Als Emilia zwei ist und immer wieder aufbegehrt, stellt sich die Frage: Nennen wir das ‚Trotzphase‘ oder doch lieber ‚Autonomiephase‘? Sprechen wir dem Kind durch das Wort ‚Trotz‘ die Berechtigung seiner Handlungen ab? Und wie weit soll die Konfrontation zwischen meinem Willen als Elternteil und dem Willen des Kindes gehen?

Plastisch und emotional versetzt uns Lajos Talamonti in die Situation: Nach ihrer Gutenachtgeschichte schläft Emilia schon fast, und wir machen es uns mit einem Glas Wein vor dem Fernseher gemütlich. Da huscht ein Kinderschatten durch den Flur. Sie hat uns erspäht und schon steht sie da, klettert auf uns herum, will gekitzelt werden. Wann sagst du Stopp? Mir reichts, Schnauze voll? Wieder einmal liegt die Entscheidung beim Elternkollektiv. Schließlich muss sie wissen, dass irgendwann auch mal Schluss ist. Du sagst Stopp. Sie macht weiter. Du hältst Emilia ganz fest. Sie macht weiter. Du schüttelst sie. Sie macht weiter. Du hebst die Hand, holst aus. „Das würde ich doch nie machen, das war ganz bestimmt keine Ohrfeige“, stammelt Lajos Talamonti, als sein Bild langsam verblasst und der nächsten Frage Platz macht.

Als nächstes entscheiden die Eltern, dass Emilia ausnahmsweise bei einer Freundin Barbie-TV anschauen darf. „Damit widersprecht ihr dem Prinzip der negativen Erziehung von Rousseau“, merkt Bettina Grahs an. Denn er postulierte, dass verwirrende Einflüsse vom Kind ferngehalten werden sollen. So flicht das Kollektiv immer wieder Grundsätze seines Werks in die Performance ein. Manchmal nimmt das Rousseau-Studium etwas überhand, zum Beispiel wenn wir mit vier seiner Dogmen konfrontiert werden und entscheiden sollen: Welchen dieser Rousseau-Gedanken stimmst du zu? So bewegt sich der Abend zwischen Theaterperformance und wissenschaftlicher Studie.

Sehr aktuell wird es wiederum, wenn die Frage ansteht, ob Emilia geimpft werden soll. Und wie wäre es mit Homeschooling? Angesichts der Pandemie doch keine schlechte Idee… Die Ergebnisse der Abstimmungen legen dabei immer wieder nahe, dass das Publikum wohl nicht sehr divers ist. Ein echter gesellschaftlicher Diskurs kann so nur begrenzt zustande kommen. „Privilegierte Scheiße!“, kritisiert ein Zuschauer diesen Umstand im Chat, während das restliche Elternkollektiv gerade diskutiert, ob es Emilia auf eine teure Privatschule schicken will.

Am Ende ist unser Kind 14, leidenschaftliche Mountainbikerin und erfolgreiche Influencerin. Die letzte Frage: Sollen wir ihren Influencer-Vertrag unterschreiben? Nein, entscheiden die Eltern. „Na toll. Jetzt hasst sie uns“, schreibt jemand in den Chat. Und schon verlassen wir diese junge Person wieder, die gerade erst in unser Leben getreten ist. Wie geht es weiter mit ihr? Die Frage hängt haltlos in der Luft. Eine Zuschauerin schreibt: „Jetzt würde ich Emilia gerne kennenlernen.“ Fest steht: Emilia ist jetzt fast erwachsen – und wir als Eltern sind damit wieder uns selbst überlassen. Bleibt nur, uns im virtuellen Foyer über diese ungewöhnliche Erziehungs-Erfahrung auszutauschen.

„Familiodrom“ wird wieder am 9., 12., und 13. Dezember gestreamt.