Foto: Das Tanzensemble von "Solitude" an der Oper Leipzig © Ida Zenna
Text:Ute Grundmann, am 17. Oktober 2020
Die Menschen gehen aufeinander zu und dann doch aneinander vorbei. Nur Paare scheinen Nähe zu versprechen und zuzulassen, doch auch sie hält nicht. Immer neu versuchen sie es, enden jedoch in einer zwar beweglichen, aber uniformen Menge. So sieht sich eine der Themenlinien an, entlang derer Mario Schröder in der Oper Leipzig seine jüngste Choreografie entwickelt hat. Programmatischer Titel: „Solitude“.
Das Publikum applaudiert schon, als nur die Schritte der Tänzer zu hören sind, die sich hinter dem geschlossenen Vorhang auf die Anfangsposition begeben. Zu lange durfte die Compagnie nicht auf diese Bühne, nun wird sie in den nächsten kurzen 70 Minuten Stille im Zuschauerraum herbeitanzen. Die Ausstattung von Paul Zoller wirkt dabei kräftig mit. Ein Geflecht aus weißen Linien auf dunklem Vorhang – Strohhalme, Halmastäbe vielleicht – verdichtet sich zu einem Raster, das mal über der Szene schwebt, mal Solisten und Corps de ballet in kleine Kästchen zwingt.
Natürlich ist die Pandemie ein Thema – Zuschauer mit Mundnasenschutz, die Mäntel auf den vielen freien Plätzen neben sich – aber um Corona dreht sich nicht alles. Das schöne, scheinbar heitere Titelwort meint nichts anderes als Einsamkeit. Die der Tänzer, der Zuschauer, aller Menschen. Eine sacht wogende Menge eröffnet den Abend, vorsichtige, tastende Bewegungen in weiß-durchsichtigen Overalls und Schutzmasken. Die Tänzer versuchen auszubrechen, finden sich wieder zusammen und werden von dem sich senkenden Gitter in Form gebracht. Dazu erklingt Vivaldis „Stabat mater“, vom Gewandhausorchester unter Felix Bender im Graben gespielt. Vivaldi – mit kurzen Ausschnitten zu kurzen Szenen – dominiert den Abend musikalisch, wird aber wirkungsvoll gebrochen. Zunächst aber singt der wunderbare ukrainische Countertenor Yuriy Mynenko die dunkel-klagenden Töne, deren Takt die Tänzer sich vorsichtig annähern. Ihre Körper drehen sich, scheinen aber am Boden festgeheftet. So „sprechen“ zunächst die Arme, rudern, fassen, tippen an. Raschelnd löst sich dann die Menge vom Boden, „lernt“ zu schreiten, sich auf gebeugten Knien zu drehen.
Mario Schröder lässt auch das Licht, das er mit Michael Röger gestaltet hat, mitspielen: Neblige Spots von den Seitenbühnen, helle Sololampen holen Einzelne, Paare (in allen Varianten) aus dem Halbdunkel hervor. Und nur letztere scheinen völlige Bewegungsfreiheit zu haben: zum Pas de deux etwa, bei dem der eine dem anderen aggressiv über den Rücken rollt, und zu Treffen und Trennung in kürzester Zeit. Schröder und seine Tänzer zeigen eine vielfältige, bildhafte, überzeugende Bewegungssprache für die immer neue, stets scheiternde Suche nach Kontakt, Reaktion, Zusammengehörigkeit, Miteinander.
Und dann die Zäsur. Die Bühne ist kurze Zeit völlig leer, dann regiert das Schwarz der Kostüme. Paare und die Gruppe suchen weiter Nähe, finden sie nicht, können sie nicht halten. Arme werden zu Zangen, die Abstände deutlicher. Reihen formieren sich, fließen auseinander, werden unordentlich. Und dann, nach Vivaldis berührendem „Amen“, leuchtet es golden. Es ist die Tuba von David Cribb, der mit vier Mitmusikern im Hintergrund sitzt, für Galina Ustwolskajas Symphony Nr. 5, auch dies ein „Amen“, aber ein verzweifeltes. Yuriy Mynenko ist nun der immer eindringlicher klagende Sprecher des russischen Textes. Die Tänzer agieren in Bewegung und Gegenbewegung, individuell und doch gemeinsam, enden aber in den uniformen, wie vereisten Reihen des Beginns.
Merkliches Atemholen im Publikum, dann langer, lauter Applaus für Compagnie, Countertenor, Choreograf. Mario Schröder legte die Hand auf den Bühnenboden, verneigte sich vor seinen Tänzern – der Rest war Wiedersehensjubel.