Foto: Im Vordergrund: Teresa Schergaut und Tilo Krügel (in „Widerstand“) © Schauspiel Leipzig
Text:Björn Hayer, am 15. Mai 2021
Es sind Figuren, die einer US-Vorabendserie der 60er Jahre entsprungen sein könnten: toupierte Haare, künstlich ausschauende Perücken, dazu eine Menge Schminke und aus der Zeit gefallene, stets penibel genau gebügelte Kleider (Kostüme: Teresa Vergho). Nur scheint das Leben in Lukas Rietzschels Stück „Widerstand“, phänomenal am Schauspiel Leipzig arrangiert von Enrico Lübbe, nicht so lustig zu sein. Im Gegenteil, was wir sehen, ist zutiefst unheimlich, obwohl es uns doch allzu vertraut sein sollte: das Dasein auf dem Land in der ostdeutschen Provinz.
Statt Idylle beherrschen Misstrauen, Enttäuschung und Zorn die Szenerie. Als Isabella von der Stadt zurück in ihre Heimat kehrt, trifft sie auf ein Heer der Abgehängten – Menschen, die in ihren Beziehungen erstarrt sind, einen Paketfahrer, der sich sukzessive zugrunde schuftet und eben jene, deren Depression in Aggression umschlägt. Während eine Gruppe Empörter im Keller einen Anschlag auf einen Politiker erwägt, vernehmen wir immer wieder Geräusche von medizinischen Geräten. Schon allein akustisch wird somit ein Systeminfarkt vorweggenommen.
Doch diese fantastische Inszenierung weiß ebenso subtil ihre Wirkung zu entfalten. Um die Entfremdung der Figuren zum Ausdruck zu bringen, lässt der Regisseur seine Schauspieler*innen (Denis Grafe, Tilo Krügel, Dirk Lange, Annett Sawallisch, Teresa Schergaut) aneinander vorbeireden. Jeder dieser auf den ersten Blich holzschnittartig anmutenden Dorfbewohner*innen redet und ist für sich allein, sowohl mit ihren/seinen Wünschen als auch mit all den Erfahrungen des Gescheitertseins. Selbst dort, wo Berührung entstehen könnte, nämlich zum Beispiel bei einer Massage, bleibt eine skurrile Distanz. Nicht der Rücken des im Vordergrund der Bühne liegenden Mannes wird massiert, sondern das Hackfleisch in der Schüssel geknetet. Wir dringen in eine so bizarre wie stilisiert unbehagliche Atmosphäre ein. Wie eine dunkle Energie durchdringt sie die wohl geordneten Räume, in denen die Alten Seitenscheitel tragen und abwischbare Tischdecken ohne Falten zum Standard der bürgerlichen Existenz gehören.
Gewahr werden wir alledem in einem Ausstellungssetting. Nicht zuletzt das Bühnenrondell (Kulisse: Hugo Gretler) hat an diesem Eindruck seinen Anteil. Dreht sie sich um die eigene Achse, so verdeutlicht sie nicht nur die gefühlte Gefangenschaft der Protagonist*innen in dem immerselben Alltag. Sie zeigt darüber hinaus auch den klischierten Blick des „Westens“ auf den „Osten“. So als wären diese Menschen von „drüben“ eine gänzlich andere Spezies, gehalten in einer von allen Seiten einsichtigen Vitrine.
Die Konfliktlinie verläuft zwischen alten und neuen Bundesländern genauso wie zwischen Land und urbanen Gebieten. Lübbes Introspektive in die Provinzküchen und -keller offenbart dabei keineswegs banale Spiegelungen von Nazis und „besorgten Bürgern“. Auch die Frage, woher das Abgehängtsein ganzer Regionen rührt, steht nicht im Vordergrund. Vielmehr geht es ihm am Schauspiel Leipzig, einem Zentrum umgeben von weiten Landschaften, darum, ein differenziertes, vielschichtiges Porträt der Ränder der Gesellschaft zu entwerfen. Zweifelsohne zählt dieses bildreiche Panoptikum verlorener Seelen zu den exzellentesten Realisierungen auf der digitalen Bühne!