Doch diese fantastische Inszenierung weiß ebenso subtil ihre Wirkung zu entfalten. Um die Entfremdung der Figuren zum Ausdruck zu bringen, lässt der Regisseur seine Schauspieler*innen (Denis Grafe, Tilo Krügel, Dirk Lange, Annett Sawallisch, Teresa Schergaut) aneinander vorbeireden. Jeder dieser auf den ersten Blich holzschnittartig anmutenden Dorfbewohner*innen redet und ist für sich allein, sowohl mit ihren/seinen Wünschen als auch mit all den Erfahrungen des Gescheitertseins. Selbst dort, wo Berührung entstehen könnte, nämlich zum Beispiel bei einer Massage, bleibt eine skurrile Distanz. Nicht der Rücken des im Vordergrund der Bühne liegenden Mannes wird massiert, sondern das Hackfleisch in der Schüssel geknetet. Wir dringen in eine so bizarre wie stilisiert unbehagliche Atmosphäre ein. Wie eine dunkle Energie durchdringt sie die wohl geordneten Räume, in denen die Alten Seitenscheitel tragen und abwischbare Tischdecken ohne Falten zum Standard der bürgerlichen Existenz gehören.
Gewahr werden wir alledem in einem Ausstellungssetting. Nicht zuletzt das Bühnenrondell (Kulisse: Hugo Gretler) hat an diesem Eindruck seinen Anteil. Dreht sie sich um die eigene Achse, so verdeutlicht sie nicht nur die gefühlte Gefangenschaft der Protagonist*innen in dem immerselben Alltag. Sie zeigt darüber hinaus auch den klischierten Blick des „Westens“ auf den „Osten“. So als wären diese Menschen von „drüben“ eine gänzlich andere Spezies, gehalten in einer von allen Seiten einsichtigen Vitrine.
Die Konfliktlinie verläuft zwischen alten und neuen Bundesländern genauso wie zwischen Land und urbanen Gebieten. Lübbes Introspektive in die Provinzküchen und -keller offenbart dabei keineswegs banale Spiegelungen von Nazis und „besorgten Bürgern“. Auch die Frage, woher das Abgehängtsein ganzer Regionen rührt, steht nicht im Vordergrund. Vielmehr geht es ihm am Schauspiel Leipzig, einem Zentrum umgeben von weiten Landschaften, darum, ein differenziertes, vielschichtiges Porträt der Ränder der Gesellschaft zu entwerfen. Zweifelsohne zählt dieses bildreiche Panoptikum verlorener Seelen zu den exzellentesten Realisierungen auf der digitalen Bühne!