Foto: Szene aus "Median" von und mit Hiroaki Umeda © K20
Text:Bettina Weber, am 11. Januar 2020
Wo hört das Menschliche auf, wo fängt die Maschine an? Am Tanzhaus NRW stehen bei der diesjährigen Ausgabe des Festivals TEMPS D’IMAGES die Kontaktpunkte von analogen und digitalen Körpern im Zentrum. Der japanische Künstler Hiroaki Umeda hat mit der deutschen Erstaufführung seiner beiden Arbeiten „Vibrance“ und „Median“ das Festival eröffnet, das Verhältnis von Mensch und Digitalität beschäftigte ihn indes schon in früheren Arbeiten.
Seinem interdisziplinären Ansatz entsprechend hat er auch für diese beiden Produktionen Sound, Choreographie und Video zu großen visuellen Gesamtkunstwerken amalgamiert. Und weil in „Vibrance“, einer Choreographie für drei Tänzerinnen, die in der japanischen Streetdance-Szene derzeit zu den Stars gehören, die Bewegungsmuster permanent und fließend zwischen impulsivem Streetstyle und starrer Robotermotorik wechseln, drängt sich die nicht immer ganz angenehme Frage auf, ob wir hier Menschen oder Maschinen beobachten sollen. Lebendig oder vibrant sind bis zu einem gewissen Grad beide. Dies sorgt auch für Irritationen, die wir aus dem umgekehrten Falle kennen. Roboter, die einerseits Menschlichkeit suggerieren und dann doch in ihrem Verhalten davon abweichen, rufen bei ihren Beobachtern Unbehagen oder Ablehnung hervor – gemeint ist das Phänomen des Uncanny Valley, auch Akzeptanzlücke genannt.
Indes, wer sich beispielsweise mit Streetstyle-Elementen wie Krumping oder Popping beschäftigt, stellt schnell fest, wie naheliegend es ist, diese modernen Tanzelemente mit mechanisch geführter Kinetik zu kombinieren. Körperteile werden kurzzeitig angespannt und überraschend fallen gelassen, dann wieder drehen die drei Frauen ihre Hälse, die Oberkörper scheinen von fremden Mächten nach vorne oder zur Seite gezogen zu werden. Dazu ein durchweg sehr lautes dumpfes elektrisches Wummern, bedrohliches Flirren sowie einzelne scheinbare Störgeräusche – ein Soundkonstrukt, das nur selten eine wirkliche rhythmische oder musikalische Dynamik erreicht und dennoch erstaunlich gut und präzise als Taktgeber der Choreographie funktioniert. Auf beeindruckende Weise stellt sich eine Verbindung zwischen den energetisch Tanzenden her, obgleich sich diese, bis auf wenige Ausnahmen, nicht berühren. Sie tanzen unabhängig, für sich, und reagieren doch aufeinander. Bei aller sozialen Vereinzelung, die diese Choreographie suggeriert, und allen Andeutungen der Fremdbestimmtheit zum Trotz bewahren sich die drei Tänzerinnen also ein Stückchen hoffnungsvolle Individualität.
Dass das Solo „Median“, der zweite Teil des Abends, dagegen vielmehr das Ausgeliefertsein des Menschen gegenüber den digitalen Technologien versinnbildlicht, zeigt sich bereits nach wenigen Minuten: Sich vermehrende Lichtstreifen überziehen und scannen in einer ganz eigenen Dynamik den Tanzboden und die Projektionsfläche an der Rückwand der Bühne, vor und in und unter diesem Video tanzt Hiroaki Umeda. Scheinbar verschlungen von Lichtmustern und Projektionen und sich völlig den Mustern des Videos hingebend dreht er die Arme schlangenartig vom Körper weg und zurück, windet sich förmlich. Schließlich ist über die Bühne ein großes Licht-Netz gespannt: Zuerst starres quadratisches Muster, verziehen sich die Streifen immer mehr zu einem gewebeartigen Linien-Netz, das an einen graphisch aufgearbeiteten Blick unters Mikroskop erinnert: Eine Choreographie der Zellen. Ob künstliche oder menschliche Zellen, bleibt offen, vielleicht ein Mittelwert oder eben: Median. In einer immer schnelleren Geschwindigkeit bis hin zur Strobo-Frequenz verändern sich die Musterbewegungen.
Dass Hiroaki Umeda zwischendurch für einige Zeit die Bühne verlässt und Video und Musik, kurz: der technischen Kunst das Feld überlässt, lässt sich auch als Statement verstehen: Wo die Technik unser Leben dominiert, droht der Mensch hinten über zu fallen. Ähnlich wie in „Vibrance“ klingt der Soundteppich nach hörbar gemachter Digitalität: Rauschen, Piepen, donnernder Bass. Ohne Unterlass und in Dauerlautstärke wirkt das eher atmosphärisch aushöhlend als freudvoll anregend. Ab einem gewissen Punkt scheinen dann Choreographie, Video und Musik, einem Perpetuum Mobile gleich, in einer sich aus sich selbst speisenden Schleife gefangen zu sein. Gewollte und wirkungsvolle Penetranz als Symbol des Ausgesetztseins womöglich, allerdings in der Länge durchaus etwas überstrapaziert. So genial das Konzept und beeindruckend die Umsetzung, es hätte im zweiten Teil erkennbar Kürzungsportenzial gegeben. Zusammen mit „Vibrance“ bietet „Median“ aber ein eindrucksvolles Spektakel, das Choreographie und Digitalität auf sehr eigene Weise in die Waagschale wirft.