Foto: Nunes' „Onkel Wanja“ am Theater Basel © Judith Schlosser
Text:Tobias Gerosa, am 7. Mai 2021
Was interessieren Tschechows einsame, todtraurige russische Provinzler heute noch? Simon Stone hat sie in seinen „Drei Schwestern“ 2016 im Basler Schauspielhaus radikal ins Heute geholt. Antú Romero Nunes, der als Teil der Viererleitung der Schauspielsparte seit dieser Pandemie-Spielzeit noch kaum etwas von seinen Plänen umsetzen konnte, geht jetzt noch einen Schritt weiter – vermeintlich.
Zwei Wochen, nachdem die Schweizer Regierung die Covid-Regeln gelockert und wieder Veranstaltungen für bis zu 50 Besucher zugelassen hat, bringt Nunes „Onkel Wanja“ auf die Bühne. Anders als im großen Haus, wo bei Strauss‘ „Intermezzo“ der Saal doch arg leer wirkt, fällt die Leere im Schauspielhaus nicht schlimm auf und die Abstände werden (selbstverständlich bei Maskentragpflicht) eingehalten. Die Blicke über den Rhein sind neidisch. In der Schweiz überwiegt die Freude, wieder spielen zu können, aktuell die Klagen darüber, was mit dieser Zuschauerbeschränkung überhaupt möglich ist. Die meisten Theater spielen wieder.
Die Basler Theaterleitung wurde just am Premierentag offiziell umgestaltet: Die Verantwortung wird breiter verteilt, statt sich nur auf Intendanz und kaufmännische Leitung zu konzentrieren. Angetreten war die Leitung mit dem Anspruch, Schwellen zu senken und Theater für die Stadt Basel zu machen. Warum also nicht einen Klassiker in einer schweizerdeutschen Fassung? Schließlich ist die Trennung in „Hochdeutsch“ für Kultur und Offizielles und Schweizerdeutsch für den Alltag hier unangetastet. Ausnahme sind natürlich die Popmusik und der Film – der vielkritisierte Schweizer Tatort wird fürs deutsche Fernsehen extra synchronisiert. Dass der Eindringling Elena im neuen Basler „Onkel Wanja“ nicht nur die neue Frau ist, sondern auch die einzige Deutsche (Mala Emde) und sich so auch sprachlich abhebt, passt: Nur mit Mundart gehört man richtig dazu – wenigstens in den kleinbürgerlichen Kreisen, die das Stück hier noch klarer abbildet als im Original.
Mit Lucien Haug, der am Jungen Theater Basel viele Stücke in Mundart kreierte und für seine Wedekind-Übermalung „Frühlings Erwachen“ am Schauspielhaus Zürich den Mühlheimer Stückepreis 2021 erhielt, gewann man einen gewieften Praktiker für die neue Fassung. Ähnlich wie Stone beließ er die Stückstruktur, aber modifizierte mit der Sprache auch die Zeit und den Ort der Handlung. Statt in der russischen Provinz leiden und langweilen sich die Figuren nun in einem Festzelt irgendwo in der Agglomeration, dem großen Gebiet, das noch nicht Stadt und nicht mehr Dorf ist, wie es im Schweizer Mittelland längst die Mehrheit tut.
Aus dem Gutshof ist die Firma „Rent a Tent“ geworden. Im illusionistischen wie im Barocktheater als Wolkenhimmel mit Gassen gestalteten Hochzeitszelt spielt sich alles ab (nur die Verwandlung durch die beiden Schüsse wären damals effektvoller ausgefallen, Bühne: Matthias Koch). Aus dem Verwalter Telegin wird Caro, der Professor zum „Schmalspur-Martin-Suter“- und „Pseudo-Bärfuss“-Schriftsteller, aus dem Arzt Astrow Michi und aus der Titelfigur Onkel Wanja „Unggle Beat“.
Jasmin oder bernisch abgekürzt Jase (Sonja bei Tschechow) nennt ihn tatsächlich meist Unggle, Onkel und das führt mitten ins sprachliche Problem: So spricht seit den 1950er Jahren niemand mehr. Liegt es am Text an sich oder an der Regie, dass Nunes mit seinen muttersprachlichen Darstellern tatsächlich einen Ton finden würde, der natürlich wirken würde (darum scheint es zu gehen)? Einheitlich wird‘s in den pausenlosen zweieinhalb Stunden sprachlich nie und das nicht wegen der verschiedenen Dialekte. Ueli Jäggi als Serebrjaków oder eben Autor Alexander und Sven Schelker als Astrow/Michi gelingt eine sprachliche Selbstverständlichkeit, mit der die Übersetzung gelingen könnte und die zu ihren Figuren passt.
Fabian Krügers Beat und auch Vera Flücks Jase hingegen klingen meist überbetont, fast pathetisch, was die Dialoge, noch mehr aber die Monologe hölzern und bisweilen zäh wirken lässt. Die beiden Schauspieler versuchen das zu überspielen – kein guter Kontrast, da nützen auch die witzigen Marotten wie uncoolen Anglizismen oder ständiges „hei“ oder „oder“ nichts.
Nunes versucht, nah bei den Figuren zu bleiben und ihnen und ihren Darstellern Raum zu lassen. Den nehmen sie sich dann ziemlich unterschiedlich. Die Idee, die Komödie zu zeigen, drückt immer wieder durch. Wo bei Tschechow keine Figur wirklich unsympathisch ist, wird bei Nunes und Haug nun keine wirklich sympathisch. Das Stück sei das Lockdown-Drama, sagt das Programmheft, das bliebt trotz angemessen deprimierter Stimmung Behauptung.
Was interessieren einsame, todtraurige Schweizer Provinzler? Nicht mehr, als die 130jährigen russischen, auch nicht weniger. Als Interpretationsansatz bleibt der Transport aber eher anämisch. Da war Stone doch radikaler und damit auch näher an der Schweizer Gegenwart.