Die Rechnung geht auf, zumindest in der Premiere, die einhellig bejubelt wird, obwohl die Wahl ohne Frage riskant ist. Denn diese Oper muss an allen Stellen erstklassig besetzt werden, sonst können acht oft in höchsten Lagen singende Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs zur Tortur werden. Und die über weite Passagen in gegenseitigen Nadelstich-Quälereien stagnierende Handlung zur Geduldsprobe.
Doch in Gelsenkirchen ist alles vom Feinsten: Regisseur Dietrich W. Hilsdorf, der Altmeister insznierte 1981 (also vor nunmehr 42 Jahren) an diesem Haus mit „Eugen Onegin“ seine allererste Oper, läuft erneut zu großer Form auf. Im Laufe seiner langen Karriere blieb Hilsdorf seiner Methode stets treu: die literarischen Vorlagen von Opernlibretti, also die Urtexte aufs Korn zu nehmen und so verschüttete Subtexte freizulegen. In diesem Fall ist es Federico Garcia Lorcas gleichnamiges Drama von 1936, über das der Dichter selbst gesagt haben soll „Kein bisschen Dichtung … alles Realität! Reiner Realismus.“ So steht im Vorwort des Theatertextes tatsächlich: „Der Dichter möchte darauf aufmerksam machen, dass diese drei Akte als fotografisch genaue Dokumentation gedacht sind.“
Blick in verschlossene Welten
Solche Hinweise lässt Hilsdorf sich nicht entgehen, sondern nimmt sie zum Anlass, sich jede abstrahierende Überhöhung zu versagen und stattdessen mit dokumentarischer Strenge vorzugehen. Als konkrete Vorlage dürfte Garcia Lorca für sein Drama das Nachbarhaus seiner Tante in Valderubbio gedient haben. Vor jenen ersten, alarmierenden Takten geben die Übertitel nun Auskunft, wo und wann man sich befindet, nämlich 1936, „Valderubbio, Provinz Granada“.
Bühnenbildner Dieter Richter hat zwei atmosphärische Räume auf die Bühne gesetzt, zur rechten einen Wohnraum mit ornamentaler Tapete, langem Esstisch und Klavier an der Wand. Zur linken eine schäbige Kammer mit Waschbecken und verblichenen Wänden, zwischen beiden Räumen ragt eine Art Erker hervor, unten eine Tür, oben ein Balkon. Nicola Reichert steckt das Personal in leicht aktualisierte, raffiniert-dezente Kostüme.
Die Handlung spielt ausschließlich im titelgebenden Haus der Bernarda Alba. Der Hausherr ist gerade gestorben, seine Witwe Bernarda führt von nun an ein eisernes Regiment und ordnet eine Trauerzeit von acht Jahren an, in der ihre fünf Töchter quasi unter Hausarrest stehen. Die Sehnsüchte wenigstens dreier der Töchter gelten indes einem gewissen Pepe el Romano, der mit der ältesten Tochter – aus erster Ehe mit einem anderen Mann – verheiratet werden soll, die vom jüngst Verstorbenen reich beerbt wurde. Zwei ihrer weniger privilegierten Halbschwestern aber lieben diesen Pepe ebenfalls. In der klaustrophobischen Enge des düsteren Hauses, getrieben von unterdrückter und verteufelter Sexualität brauen sich in der unbarmherzigen Hitze des andalusischen Hochsommers fatale Intrigen zusammen und münden schließlich mit dem Suizid einer der Schwestern in der Katastrophe. García Lorcas unbarmherzige Studie der repressiven Gesellschaftsverhältnisse im Spanien der 1930er-Jahre mag westlichem Großstadt-Opern-Publikum aus der Zeit gefallen scheinen, gleichzeitig sind solcherart archaische Verhältnisse mit weggesperrten Frauen im Rest der Welt und sogar in hiesigen Parallelwelten nach wie vor keine Seltenheit.
Extreme Musik
Aribert Reimanns Partitur sperrt dagegen bis auf den Einsatz (in Gelsenkirchen aus dem Off) eines Chores die Männer aus, alle Partien sind ausschließlich für Frauenstimmen komponiert. Begleitet werden sie von einem ungewöhnlich besetzten Orchesterapparat: Vier (teils präparierte) Flügel, zwölf Celli, zehn Holzblasinstrumente (Klarinetten und Flöten, keine Oboen) und sieben Blechbläser ordnen sich mit verschiedenen Klang- und Geräuschwelten den Frauenfiguren zu, die allesamt mit extremen Partien betraut sind. Sprünge bis weit über die Oktave hinaus sind nicht die Ausnahme, sondern quasi das Grundmaterial der Stimmführung aller singenden Frauen. Kaum jemals kommt ein melodiöser Fluss zustande. Die Frauen eint eine hörbar gemachte maximale körperliche und seelische Anspannung, ein unterdrückter Ausnahmezustand. Man könnte die exaltierten Gesangslinien auch als Musik gewordene Hysterie bezeichnen. Glücklicherweise werden trotz deutsch gesungenen Textes Übertitel eingeblendet, denn der verzerrende Gesangsgestus lässt den Text teils nur schwer verstehen. Johannes Harneit im Graben hat das heikle und durch seine karge Instrumentierung überaus fragile, weil offenliegende Geschehen souverän in der Hand gibt den Sängerinnen den nötigen Halt, um über sich hinauszuwachsen.
Stellenweise verfallen die Frauen auch immer wieder ins trockene Sprechen – diese Passagen werden nicht übertitelt und kommen erschreckend direkt über die Rampe. Überhaupt setzt Hilsdorf auf schnörkellose Direktheit und Drastik: In minutiöser Personenführung unter Hochspannung zeigt er die Nöte und Qualen der Eingesperrten, den Hass der untergebenen Mägde, lässt sie beben in unterdrückten Konflikten und Begierden. Und schließlich verdichtet er das Crescendo des Dramas in kleinsten Gesten und Blicken immer mehr, bis sich der unerträgliche Druck endlich entlädt.
Das Ensemble zieht fantastisch mit: Almuth Herbst ist eine gnadenlose Bernarda mit fulminant ausschwingendem Mezzo, eine faszinierend ambivalente Figur, die unter dem eigenen Regiment, das in Wahrheit ja ein Regiment des abwesenden Patriarchats ist, zu leiden scheint. Auch die Töchterschar ist mit Lina Hoffmann (Angustias, die älteste Tochter), Bele Kumberger (Magdalena), Margot Genet (Amelia), Soyoon Lee (Martirio, die Chef-Intrigantin) und Katherine Allen (Adela, die eigentliche Geliebte Pepes, die sich zuletzt umbringt) famos besetzt. Gleiches gilt für die Mägde La Poncia (die wunderbare Sabine Hogrefe, die eine verhärmte, doch selbstbewusste Frau zeigt) und Violeta (Publikumsliebling Anke Sieloff mit einer weiteren Glanzleistung).
Einen grandiosen Auftritt hat die große Mechthild Großmann in der Sprechrolle als kindlich-wahnsinnige Mutter der gnadenlosen Hausherrin, die den Abend mit ihren „Bernarda!“-Rufen so unheilvoll einläutet. In der Region ist sie vielen als langjährige Pina-Bausch-Darstellerin bekannt, ein größeres Publikum erinnert eher ihre selbstironisch-witzigen Auftritte mit verrauchter Bariton-Stimme als Staatsanwältin beim Münsteraner „Tatort“.
Fazit: Eine perfekte Inszenierung, die einen exemplarischen, letztgültigen Eindruck hinterlässt und nahtlos verzahnt ist mit einer herausragenden musikalischen Gesamtleistung. Ein seltener Glücksfall!