Breiners zweiteilige Programmtitel-Choreographie „Seid Umschlungen“ zu Friedrich Schillers Ode „An die Freude“ und Ludwig van Beethovens 9.Sinfonie, die von den Pianistinnen Elena Kuschnerova und Angela Yoffe in Franz Liszts Bearbeitung für zwei Klaviere geboten wird, eröffnet den Abend, bildet auch mit dem finalen Beethoven-Sinfoniesatz Klammer und Rahmen um facettenreiche Ballettkreationen. Die Bühne ist dunkel und düster, ein helles Möbiusband durchschlängelt und füllt mit schwebender Schleife den Raum. In langen schwarzen Mänteln versammelt sich das Ensemble, Tänzer malen mit Pinsel und schwarzer Farbe Buchstaben auf das entlang der Bühnenfront schleifende weiße Band. Eine Tänzerin liegt im hautfarbenen Trikot ausgestreckt im Bühnenzentrum. Um diese Protagonistin, die sich solistisch erhebt und tanzend einen Partner findet, gruppieren sich weitere Paare, die das klassische Tanzvokabular auch in synchronen Passagen für ihre Kommunikationsversuche nutzen. Später werfen sie ihre Mäntel beiseite und tanzen mit Tempo zu schnellen Musikabschnitten oder gleiten gefühlvoll-geschmeidig zum langsamen Satz.
Es folgt der Pas de dix aus dem 3. Akt von Marius Petipas „Raymonda“ zu Alexander Glasunows Ballettmusik, von Lynne Charles hochklassisch aufbereitet. Die fünf Tanzpaare in schwarzweißen Tutus (Frauen) und schwarzen Hosen, Westchen und weißen Hemden (Männer) bieten aristokratisch festlichen Hochzeitstanz, pulsierendes Temperament und Bilderbuchposen vom Feinsten. Die Soli sind wahrer Augenschmaus, insbesondere der virtuose Glöckchentanz mit Balkya Zhanburchinova. Die Choreografie „Always/Only“ (zu Deutsch „Immer/Nur“) von Kevin O’Day – wie Breiners Arbeit eine Uraufführung – zeigt zwei Paare, die zu „Aheym“, einer Auftragskomposition für das Kronos Quartet von Bryce Dessner, mit Leidenschaft körperliche Nähe suchen, sich im Tanz verzehren, aneinander reiben, bald mit einem Partner eng verbunden scheinen, bald sich schmerzhaft abstoßen und trennen.
Im rückenfreien schwarzen Hosenanzug zelebriert Nadja Sellrup das von Marco Goecke geschaffene, technisch unglaublich fordernde Solo „Tué“ (Todesopfer). Genauso erregt, nervös und brüchig wie die musikalisch zugrunde gelegten Lieder „Drouot“ und „Sid’amour“ der Chansonnière Bar-bara sind die Bewegungsabläufe, das eckige Gewirbel von Oberkörper und Kopf, das ruckige Gefuchtel der Beine. Die Hände zittern an seitlich parallel ausgestreckten Armen, spastische Zuckungen durchpulsen alle Körperpartien in Rücken-Ansicht. Marguerite Donlons locker vertanztes, irisch-folkloristisches Ensemble-Tanzstück „Ruff Celts“ zu Irish Folk löst alle zuvor intensiv aufge-bauten Spannungszustände. Die Mädchen tanzen strümpfig in schwarzen Bodysuits, mit weißen Renaissance-Halskrausen ausstaffiert. Die Männer mit nackten Oberkörpern in schwarzen Kilts. Anfangs wirken alle Akteure vor lichthellem Hintergrund wie Scherenschnitt-Figuren. Wildheit und tänzerischer Kampfsport beherrschen die Szene, durchmischt mit Anklängen aus dem Mottenkisten-Ballett, das Mehlstaubwolken vertreiben.
Ballettklassik, wie sie anmutiger und fröhlicher kaum sein könnte, präsentiert nach der Pause die wegen der beteiligten Tänzerzahl lapidar mit „5“ überschriebene Choreographie von David Dawson, einem Ausschnitt aus seinem Handlungsballett „Giselle“ zu Adolphe Adams Musik. Drei Ballerinen in traditionellen weißen Tutus und zwei grauweiß gekleidete Tänzer entfalten einen Pas de Cinq der Extraklasse. So frisch, so lebhaft lebendig, so luftig leicht und locker erlebt man das Genre nur selten. Der sich anschließende Pas de deux „Daybreak“ von Pontus Lidberg mit dem Duo Lucia Solari und Ledian Soto begrüßt eine zwielichtige Welt zwischen Träumen und Wachen. Die dunkle Bühnenrückwand öffnet ein Fenster mit Blick in grünenden Wald bei „Tagesanbruch“. Zu Samuel Barbers „Adagio“ aus dem Streichquartett des Komponisten inszeniert der schwedische Choreograph ein Duett zwischen Mann und Frau, das liebevolle, flüchtige und zerbrechliche Momente in klassischer Formensprache festhält.
Zu Kurt Weills „Mack the Knife“ und Benny Goodmans „Get Happy“ hält mit Richard Siegals „The New 45“ echtes Broadway-Entertainment Einzug in Bridget Breiners ersten Karlsruher Tanzabend. Pablo Octávio und Joshua Swain kommen tänzerisch duettierend derart splapstickhaft verbogen und witzig in Flatter-Hemden und -Hosen daher, dass der Spaß an ihren jazzig-schlacksigen, gezappten Dancefloor-Attitüden alles überwältigt. Danach gipfelt Breiners „Seid Umschlungen“ mit bunten Ensembles im Finale der Beethoven-Sinfonie. Schillers „Freude schöner Götterfunken“, der als Leitmotiv in den Übergängen zwischen den Stücken jeweils von Tänzern zitiert und vor dem Vorhang mit individuellen Bewegungs-Apercus kommentiert wird, ist übergesprungen. Mit diesem Niveau dürfte Karlsruhe weiterhin zu den führenden Ballettbühnen in Deutschland zählen.