Christian Spucks "Lulu" am Stuttgarter Ballett

Unerhörte Magie

Christian Spuck: Lulu. Eine Monstretragödie

Theater:Stuttgarter Ballett, Premiere:06.06.2018Musikalische Leitung:James TuggleKomponist(in):Dmitri Schostakowitsch, Alban Berg, Arnold Schönberg

Christian Spuck: Lulu
Stuttgarter Ballett
Eckehard Uhlig
Dmitri Schostakowitsch, Alban Berg, Arnold Schönberg
James Tuggle
Die deutsche Bühne

Die Stuttgarter Ballettfans haben Sehnsucht nach Christian Spuck, ihrem einstigen Hauschoreographen, und seinen Tanzkreationen. Insbesondere nach seinem ersten abendfüllenden Handlungsballett „Lulu. Eine Monstretragödie“, das 15 Jahre nach der Uraufführung nun in einer Neufassung bei (umjubelter) Anwesenheit seines Schöpfers Premiere hatte.

Vieles ist geblieben. So Dirk Beckers Bühne im Stuttgarter Opernhaus, die mit großzügigen Treppenaufgängen rechts und links, mit der Stuckdecke und dem Balkon-Podiums-Vorsprung in der Mitte, anfangs an einen hochherrschaftlichen Salon erinnert, im Paris-Akt der Lobby eines Luxushotels mit Ballsaal gleicht und schlussendlich in London einer zwielichtig heruntergekommenen Großstadtszenerie, in der die Prostitution gedeiht. Geblieben ist vor allem Alicia Amatriain, die mit Lebenserfahrung gereift scheint. Die elektrisierende männermordende Erotik erwächst nicht aus ihrer spirligen Körperlichkeit, sondern allein aus ihrer mitreißend-umwerfenden Bewegungssprache, die sich eben nicht nur im Spreizen der Beine erschöpft. Wieder tanzt sich die Amatriain in ihrem flattrig weißen Hänger-Kleidchen (Kostüme Emma Ryott) buchstäblich um Kopf und Kragen.

Spucks Choreographie fasziniert zumal im ersten Teil vor der Pause. Im Prolog spielt oben auf dem Balkonvorsprung ein Salonorchester, die Sängerin (Maria Theresa Ullrich) zelebriert melancholisch den Song „Wild is the wind“. Dann musiziert (unter James Tuggle) das Staatsorchester im Graben Schostakowitschs Walzer aus dessen Jazz-Suite, der in der Musikcollage aus Kompositionen von Berg bis Schönberg zu einer Art musikalischem Leitmotiv der gesamten Aufführung wird. Rechts sitzen an Tischen hintereinander Lulus Verehrer wie Pennäler in der Schule. Dort fehlt nur Schigolch (damals Eric Gauthier, heute Louis Stiens), der auf der anderen Bühnenseite, ebenfalls an einem Tischchen sitzend, einen englischen Text (wohl Lulus Obduktionsbericht) vorliest und verschwitzt im weißen Unterhemd (sonst tragen alle männlichen Akteure Anthrazitgrau und Schwarz) wie einst Marlon Brando im „Letzten Tango“ lüstern agiert. Lulu liegt derweil lasziv ausgestreckt an der linken Rampenecke, hört und schaut ihrem ersten Mann scheinbar zu.

Später, ihr tragisches Schicksal nimmt seinen Lauf, fordert die Verführerin die auf ihr sexuelles Begehren reduzierten Testosteron-Männer der Reihe nach mit rotierendem Hinterteil oder lustvoll sich dehnenden und spreizenden Gesten zu allerhand Tänzchen auf, die sich allerdings zu einem Tanz auf dem Vulkan auswachsen. Da ist der illusionäre Maler Schwarz (Noan Alves), der spröde Dr. Schöning (Roman Novitzky), den Lulu erschießt, sowie sein blässlicher Sohn Alwa (David Moore) und Latinlover-Liebhaber Rodrigo (Flemming Puthenpurayil), mit denen sie nach Paris flieht. Mit ihnen allen gibt es eine Abfolge von Pas de deux, die im Feuer des Begehrens verbrennen und betörende oder hasserfüllte Liebeskrämpfe in kopulierenden Tanzfiguren und Schritten darstellen.

Eine rauschende Ballszene mit Lulu-Doubles, in der das Stuttgarter Ensemble seine Klasse austanzen kann, eröffnet den zweiten Teil des Balletts. Danach schleichen sich einige Längen in die Choreographie ein. Bis das eigentliche Duell den gesamten Abend hochpuscht, das die verzehrende, selbstmörderische Manie zeigt, mit der Gräfin von Geschwitz der blonden Kindfrau und Femme fatale Lulu verfallen ist. Spuck gelingt in den Szenen mit beiden Frauen eine kontrastierende choreographische Meisterleistung. Während sich Lulu meist mit steif angewinkelten Füßen fast burschikos auf flachen Sohlen in verqueren Bewegungsabläufen ergeht, tanzt Geschwitz in ihrem rüschigen Schwarze-Witwen-Ballkleid  klassisch elegant auf der Spitze, bohrt ihre Beine wie im Stechschritt in den Bühnenboden, ist eine (aus den Fugen geratene) Dame von Welt. Im Gegensatz zu Bridget Breiner, ihrer Vorgängerin aus der Uraufführung, fehlt es freilich der neuen Protagonistin Anna Osadcenko an morbid-verruchter Ausstrahlung, an der abgründigen Hingabe, mit der sie sich Lulus letztem Freier entgegen wirft. Dazu hat sie einfach ein zu freundliches Wesen.

Wer eine Schwachstelle in Stucks „Lulu“-Neufassung ausmachen möchte, wird fündig in dem, was die „Monstretragödie“ ausmacht. Das Monster Jack The Ripper, der Aufschlitzer, der Lulus Ende auf nachtdunkler Treppe besiegelt, ist eigentlich ein schmutzig-körperlich attraktiver, brutaler Wüstling, bei dem allein Fleischeslust zählt und in dem Lulus Gier ein Pendant findet. Jírí Jelinek hatte so in der Uraufführung getanzt und gespielt. Die kurzfristig erfolgte Umbesetzung – statt des angekündigten Jason Reilly übernahm Roman Novitzky (als Zweitrolle) den Part und gab den Ripper als körperbehinderten irren Sextäter – wirkt unangemessen. Auf den Typen hätte sich Lulu niemals eingelassen. Schade, denn Stucks Gestaltung eines weiblichen Archetypus, der nicht nur Männerphantasien anregt, besitzt nach wie vor unerhörte Magie.