Foto: Ranjewskaja (Bettina Engelhardt) und ihr Bruder (Martin Horn) im alten Kinderzimmer © Diana Küster
Text:Detlev Baur, am 7. September 2015
Tschwechows „Kirschgarten“ beschreibt dramatische gesellschaftliche Umbrüche, die sich um die Familie der Gutsbesitzerin Ranjewskaja herum ereignen. Das Stück tut das jedoch mit einer diskreten Nonchalance; reichlich undramatisch beschreibt es nicht vielmehr als die Rückkehr der Ranjewskaja und ihrer Entourage ins hoffnungslos überschuldete Gut und das halbherzige Warten auf eine wunderbare Wendung, die der ungläubigen Zurkenntnisnahme der unausweichlichen Versteigerung an den ehemaligen Leibeigenen Lopachin weichen muss; schließlich steht am Ende die abermalige Flucht fast aller Figuren vom verlorenen Gut. Die vier Akte beschreiben wenige Wochen ohne größere dramatische Konfrontationen – und doch brechen hier im Angesicht der plauderenden Gesellschaft Welten zusammen, wird die kultivierte Natur des Kirschgartens schließlich dem schnellen Geld durch Fremdenverkehr geopfert.
Die Ranjewskaja wird also zur Gutsverliererin. Bettina Engelhardt ist in der Bochumer Inszenierung eine recht junge Verliererin, die mitten im Leben stehen könnte; sie wirkt wie eine freundliche, aber auch ein wenig unnahbare verspielte Matrone in einem provinziellen Umfeld; dabei weicht sie permanent den praktischen Fragen aus und hat am Ende genug vom verlorenen Spiel. Ihr ähnlich lebensuntüchtiger Bruder Gajew ist bei Martin Horn eine so verschrobene wie zugleich biedere und somit auch liebenswerte traurig-komische Figur. Roland Riebelings Lopachin ist die dritte herausragende Figur in Tamás Aschers Inszenierung. Im finalen Triumph leidet dieser sensible Millionär auch an seinem traumhaften Erfolg und ist auf seinen eigenen Erfolg wütend. Faszinierend ist auch sein Zögern, wenn es um die eigentlich naheliegende Heirat mit Ranjewsjkajas Tochter Warja (überzeugend verkniffen und unglücklich von Kristina Peters gespielt); fast wirkt der Macher Lopachin in diesen Szenen der Verklemmung und Angst als Spiegelbild der in finanziellen Fragen sprachlosen Ranjewskaja. Besonders diese drei Protagonisten zeigen in dem wundervoll abgetakeleten Raum (Bühne: Zsolt Khell) ein differenziertes Charakterspiel, wie es ein wenig an gute alte Theaterzeiten erinnert. Und tatsächlich ist der große ungarische Regisseur Tamás Ascher ein Könner des naturalistischen Spiels.
Die komischen Momente des Stücks, etwa beim zuverlässig ungeschickten Buchhalter Jepichodow (Marco Massafra), werden wirkungsvoll ausgespielt, die seltsamen Zaubertrickszenen der Charolotta Iwanowna (Therese Dörr) wirken dagegen befremdlich, wie häufig in „Kirschgarten“-Inszenierungen. Alles in allem plätschert die dreistündige Inszenierung dahin, mit starken Szenen und zähen Perioden. Nur einmal kurz vor der Abreise, wenn alle sich noch einmal ermattet im verlorenen Haus schweigend für einen Moment niederlassen, entsteht über das feine Spiel des feinsinnigen Stücks hinaus ein wirklich packender Moment. Insgesamt bleibt das Gesellschaftspanorama dieses „Kirschgartens“ jedoch vage, ist die Assoziationskraft des Zuschauers gefragt, wenn hochaktuelle Themen wie die Schuldenkrise oder das Primat des Geldes vornehm zurückhaltend angesprochen werden.