Foto: Hagen Ritschel und Ensemble in "Vorwärts! Wir sind vergessen" am Neuen Theater Halle © Falk Wenzel
Text:Michael Laages, am 26. Mai 2022
Deutsche Archäologie betreibt die Regisseurin Johanna Schall mit diesem Projekt; denn vergessen ist das Objekt der Recherche doppelt und gründlich. Ob wenigstens Schülerinnen und Schüler (auch Lehrerinnen und Lehrer) der Ernst-Ottwalt-Schule in Halle an der Saale wissen, warum ihre Schule diesen Namen trägt? Ernst Gottwald Nicolas (1901 in Zippnow geboren, das heute Sypniewo heißt und in Polen liegt) hat an dieser Schule das „Reifezeugnis“ bekommen, da war die Schule noch das „Stadtgymnasium“ in Halle. Schüler Ernst durchlebte 1918 bereits dramatische Zeiten, den Wahnsinn der Zeit: Kriegsende, Ausrufung der Republik, Räte-Republik auch in Halle, Bürgerkrieg, Putsch und den beginnenden Aufstieg des Nationalsozialismus. Dass Ernst Ottwalt (wie sich der junge Mann später als Schriftsteller nennt) aller Wahrscheinlichkeit nach in einem sowjetischen Lager in der Nähe vom sibirischen Archangelsk verreckte, ist Teil dieser ausgegrabenen, deutschen Geschichte.
Vergessen wurde Ottwalt in der DDR, weil die Sowjets ihn als Konterrevolutionär beseitigt hatten, der Westen interessierte sich nicht für den Schriftsteller, weil er Kommunist geworden war – wenig, sehr wenig ist über Ottwalt bekannt. Und „Vorwärts! Wir sind vergessen. Ein ideologischer Totentanzin am Neuen Theater Halle steckt auch darum voller historischer Fundstücke: Ja, Ottwalt hat mit Bertolt Brecht das Drehbuch zum linken Kult-Film „Kuhle Wampe oder Wem gehört die Welt?“ geschrieben. Der Streifen kam 1930 in die Kinos, entwirft eine Art kommunistischer Utopie in einer Kleingartensiedlung am Stadtrand von Berlin – und Ernst Busch singt darin Hans Eislers „Solidaritätslied“: „Vorwärts, und nicht vergessen“.
Und ja, Ernst Ottwalt veröffentlicht danach drei Romane, die Erfolge feierten: einen über den Aufstieg der Nazis („Deutschland erwache“), einen über das erzreaktionäre deutsche Gerichtswesen („Denn sie wissen, was sie tun“), aber gleich den ersten vor allem über sich selbst („Recht und Ordnung“). Der junge Ottwalt hatte sich noch als Schüler rechten Kameradschaften von Soldaten angeschlossen, für die der Weltkrieg nicht zu Ende sein durfte. Er gehörte zum „Freikorps Halle“ und nahm aktiv am Kapp-Putsch teil. In einer der schönsten Szenen an diesem Abend wollen Ottwalt und ein Mitkämpfer eine Veranstaltung im lokalen Gewerkschaftshaus ausspionieren, werden aber erkannt, vertrieben und verfolgt – und kapern eine Straßenbahn für die Flucht. Es geht schon um Leben und Tod.
Die persönliche Wende kommt kaum merklich – Ottwalt lässt die protofaschistischen Horden hinter sich, wird zum Verteidiger der Weimarer Republik und obendrein Partei-Kommunist. In vielem erinnert dieser Weg an den von Brechts frühem Partner Arnolt Bronnen – Star der linken Literatur-Szene, dann Goebbels-Freund, später wieder einflussreich in der DDR-Kultur. In Berlin macht auch Ottwalt Karriere als Buchautor. Als er fliehen muss mit Ehefrau Wal-traut, laden ihn Brecht und Helene Weigel auf die dänische Insel ein, auf der sie damals zu Hause waren.
Privates und Schmerzhaftes
Johanna Schalls Recherche fördert auch sehr Privates zutage – auf Bildern ist Ottwalt mit der kleinen Barbara zu sehen, der Tochter von Weigel und Brecht – das war die Mutter von Johanna und Jenny Schall. Ottwalt wird nach Prag gerufen, um an einer Exil-Zeitschrift mitzuarbeiten – und hier beginnen die Zerwürfnisse, die Denunziationen. Bei der Flucht weiter nach Moskau geraten die Eheleute Ottwalt ins Visier des Geheimdienstes NKWD, in dessen Folterkellern werden sie gebrochen. Zwar kommt Waltraut in einer Art Gefangenenaustausch frei und zurück nach Deutschland, aber Ernst erleidet bis zum Tode Qual um Qual im Lager.
Dieser zweite Teil der Aufführung ist eine extrem schmerzhafte Passion; und die menschenverachtende Vernichtungsrhetorik von sowjetischer Partei- und Staatsmacht erschüttert gerade im Augenblick sicher noch mehr als üblich. Wie da ein Volk traumatisiert und konditioniert wurde für den Krieg, macht auch Jahrzehnte später sprachlos. Aber Schall behält dabei immer die Vorgeschichte im Blick – den Kampf um Deutschland und das Ende der Weimarer Republik; der stalinistische Terror wirkt ja auch wie die Antwort auf den Wahnsinn daheim.
Dokumentarisch grundiertes Theater wie dieses ist sehr selten – und Schalls Team ist engagiert darum bemüht, nicht in der Geschichtsstunde für Fortgeschrittene stecken zu bleiben. Die Video-Abteilung leistet ganze Arbeit, genau wie Dramaturgin Cornelia Oehme bei der Recherche. Nicolaus Johannes Heyse steuert flexibel-konstruktivistische Bühnen-Architektur bei mit Stahlstreben, Treppen und Tribünen, Jenny Schall wattierte Jacken und Uniformen in Ton und Stil der Zeiten; Martin Reik stiftet Sounds vom Keyboard. Und das Ensemble um Hagen Ritschel und Kinga Schmidt als Ehepaar Ottwalt-Nicolas driftet mit enormer Energie durch den Geschwindschritt von Schalls szenischen Schnittmustern.
Es sieht übrigens ein bisschen so aus, als habe die Regisseurin sich auch selbst in den Abend hinein inszeniert: als „graue Frau“, von Nicoline Schubert gespielt, die vor allem zu Beginn mit großen, staunenden Augen vor all den Verwirrungen des jungen Ottwalt steht, daheim in Halle. Unfassbar, diese deutsche Geschichte; unbegreiflich dieses ganze europäische Inferno des vorigen Jahrhunderts – die Zeit mag vergangen sein, vergessen und weit weg, das Inferno ist es nicht.