Foto: Das spielfreudige Kasseler Ensemble in "Operette" © N. Klinger
Text:Juliane Sattler-Iffert, am 21. Januar 2019
Das hat man selten gesehen: dass einem Stück Theater auf Grund von Übersättigung die Luft ausgeht, dass es den radikalen Anspruch, welches es in sich trägt, langsam und stetig mit der Länge der Dauer verliert, bis das Albertinchen, nein, es ist nicht ganz nackt, ins Publikum schaut, „Oh“ sagt, sich einen Morgenmantel überstreift und verschwindet. Und wir, die wir ermattet nach zweieinhalb Stunden im Zuschauerraum sitzen, denken: Das war‘s.
Das absurde Theaterstück „Operette“ von Witold Gombrowicz (1904-1969), das jetzt im Kasseler Schauspielhaus Premiere hatte, betreibt höhnisch, satirisch und anarchistisch die Demontage und Entblößung einer bürgerlichen Theaterform: der Operette. Der polnische Autor feiert sie, indem er sie zerstört. In dem Stück kombiniert er, wie er einmal gesagt hat, den „monumentalen Schwachsinn der Operette“ mit dem „monumentalen Pathos der Geschichte“ und liefert ganz nebenbei eine scharfe Gesellschaftssatire ab, die heute mehr denn je trifft. Er konfrontiert Prinzen und Grafen, Barone und Marquisen aus dem Theaterfundus mit Möchtegern-Revolutionären, Lakaien und käuflichen Intellektuellen. Auf der Bühne entwickelt sich eine schräg-schrille Schau zu den mutig gemischten Rap-, Pop- und Esoterikklängen des Komponisten Thorsten Drücker. Punktgenau hat dieser seine Musik zu den bizarren Zustandsbildern einer falschen, hohlen Welt komponiert.
Am Hof des Prinzen Himalaj geht es zu wie in Kálmáns „Gräfin Mariza“, nur noch viel gezierter und grotesker. Man singt, tanzt, posiert und trippelt erstaunlich in der Choreografie von Volker Michl: Da feiert sich eine Gesellschaft selbst, die sich ihre Existenz ohne Mode, ohne Maskierung nicht mehr vorstellen kann. Albertinchen (Meret Engelhardt) aber, ein Beutegut des Mädchenjägers Graf Charme (Caroline Dietrich), setzt die Lust auf Nacktheit dieser Welt ihrer Lust auf Verschleierung entgegen. Ein Fiasko, ein Eklat auf der Party im Schloss, auf der gerade Maestro Fior (Bernd Hölscher) die „neue Mode“ protegieren will. Doch als „der Wind der Geschichte“ durch das Haus wütet, die Lakaien die Revolution ausrufen, sind die neuen Kostüme eben die der Faschisten und Kommandeusen, blutige Masken. Graf und Prinzen suchen nach ihrer Identität. Die Kostümbildnerin Brigitte Schima entwickelt ihre Stilbrechungen mit viel Witz und Anleihen an den Barock.
Regisseur Philipp Rosendahl, der sich bereits mit beachtenswerten Inszenierungen am Kasseler Staatstheater hervorgetan hat, findet besonders nach der Pause des dreiaktigen Theaterabends an einem selbstverliebten Regiestil mit einem Übermaß an Ideen und Bildfindungen Gefallen, Kürzungen des Stückes wären zudem angebracht gewesen. Besonders das Finale steht dann für diese vielen Irrtümer einer Inszenierung: Auf der Bühne entwickelt sich eine Entblößungsfeier mit leicht seligen Hippie-Einsprengseln, der etwas irrationale Glaube Gombrowiczs an eine Revolutionierung durch Schönheit, Jugendlichkeit und heilige Nacktheit à la Rousseau wirkt so wenig dialektisch und gesellschaftskritisch in all dem überbordenden Trubel zwischen den Zuschauerreihen. Und schließlich – wie seltsam ist diese Strafe – irren die Mitglieder der abgestürzten Klasse als Lampen, Tisch und Pferd in der Ruine des Schlosses herum, das Daniel Roskamp mit Zitaten von der Rocky Horror Picture Show bis hin zur Operettenseligkeit als dunkle Höhle gestaltet hat. Da gestaltet Caroline Dietrich in einer Hosenrolle ihren Frauenmaulheld Charme mit aberwitzig gezierter Pose, dagegen setzt Konstantin Marsch seinen Baron Firoulett mit kräftig deutschem Eroberungstum, Bernd Hölscher zeichnet Maestro Fior mit einer waghalsigen Mischung aus Philosophie und Derbheit, und Meret Engelhardt profiliert sich als Albertinchen ganz im Verzicht auf ein liebliches Männer-Beute-Püppchen, hier verweigert sich eine total. Der sich selbst ekelnde und deshalb sich ständig erbrechende Professor (Philipp Basenener) singt und kotzt trefflich; die Sartre-Karikatur wird hier zur Triebfeder einer Revolution.
Wenn das Ende kommt, kommt das Ende, kommt das Ende. Der Zuschauer sieht das Finale, und dann geht es doch weiter. Einmal, zweimal… Er sieht auch noch die 250 Nackten auf der Videoleinwand, deren Suche für das Gombrowicz-Stück zum erfolgreichen Marketing-Gag wurde, er sieht die mutigen Kasseler wenige Sekunden barbusig und mit fleischfarbener Unterwäsche. Doch kaum kann er staunen, ist es auch schon vorbei. Der Vorhang, der schwarze, der sich immer mal wieder gehoben und gesenkt hat, fällt jetzt zum letzten Mal. Stürmischer Applaus zur Premiere. Man hatte Spaß.