Foto: Matteo Suk, Lucie Ceralova und Chor in "TIMESHIFT ... oder Die Zeit ist ein Vogel". © Michael Hörnschemeyer
Text:Marieluise Jeitschko, am 5. Dezember 2011
„Zwei Augen hat die Seele: eins schauet in die Zeit. Das andere richtet sich hin in die Ewigkeit“, dichtete Angelus Silesius. Nüchtern analysierte der französische Moralist Joseph Joubert: „Die Zeit ist Bewegung im Raum“. Zwischen diesen beiden Polen pendelt das neue Experimentelle Musiktheater „Timeshift… oder Die Zeit ist ein Vogel“ von dem Künstler-Kollektiv Susanne Blumenthal (Musikalische Leitung), Recha la Dous (Regie) und Kerstin Ergenzinger (Bühnenausstattung). Entstanden als 9. Folge des Fonds Experimentelles Musiktheater des NRW-Kultursekretariats und der Kunststiftung NRW in Zusammenarbeit mit den Städtischen Bühnen Münster, wurde es angeregt durch die fiktive Kollage aus 30 kurzen philosophisch-physikalischen, oft surrealistisch anmutenden Episoden des internationalen Bestsellers „Einstein’s Dreams“ (deutsche Fassung: „Und immer wieder die Zeit“) von dem amerikanischen Physiker Alan Lightman.
Die Realisierung des perfekt geglückten Experiments begann mit einem Schlüsselerlebnis für die Bühnenbildnerin, als sie den Theaterraum in Augenschein nahm. Ein Gerüst über dem Parkett ermöglichte die Schau von oben auf die rund 200 Leuchten am viel gescholtenen und diskutierten Münsterschen Theaterhimmel. „Jede Lampe ein Kosmos – eine eigene Welt“, resümierte Ergenzinger. Schon beim Betreten des Raums sieht das Publikum raffiniert animierte Projektionen und abstrakte Videoinstallationen von Ergenzinger und dem Videokünstler Matthias Neuenhofer. Lampen, mit Rohrplatten verbrämte Balkons und hohe Stuhllehnen rotieren, schweben, fahren vorbei, stieben durcheinander wie Schneegestöber, Farbklekse und Pixel zerfließen und verschwimmen auf dem zarten weißen Rückprospekt und auf der Ziehharmonika förmigen Reihe von Paravents über den Parkettreihen. Der ganze Raum scheint fast immer in Bewegung, und strahlt doch heitere Gelassenheit und Schönheit aus – auch durch die Musik. Die von Blumenthal eingeladenen Komponisten Søren Nils Eichberg, Vassos Nicolaou, Steingrimur Rohloff und der Jazzmusiker Niels Klein bieten mit durchaus unterschiedlicher Handschrift zwischen Lyrismen, dissonanter Dramatik und deutlicher Motorik (dem einzigen Hinweis auf das einförmige Ticken einer Uhr) kongeniale Klangwelten für das vorzügliche Sinfonieorchester und Solistenquartett.
Sopranistin Christine Graham markiert das glockenreine Echo zur warmen Kantilene von Mezzo Lucie Ceralova an der Bühnenrampe. Tenor Youn-Seong Shim steht einmal als weiß geschminkter Samurai auf einem Podest im Zuschauerraum oder hockt weiter vorn auf einem ovalen Tisch, schreitet dann auf hohen Kothurnen wie ein Diktator den Massen voran. Bariton Matteo Suk dominiert im berückend schönen Quartett der ersten von sechs Szenen. Saxophon, Schlagzeug und Bass donnern und hauchen Jazz-Improvisationen der Zwischen- und Vorspiele aus dem hinteren Parkett, ergänzt durch eine brillante Tisch-Percussion-Einlage zweier Musiker auf der Bühne. Der Chor schallt aus dem Off der Kulissen, von der dritten Galerie, flankiert die Parkettreihen und bevölkert als bunt kostümiertes Welten-Volk die Bühne. Völlig unaufdringlich wird so das Publikum mit hineingenommen in eine der wohl spannendsten neuen Musiktheaterinszenierungen in Deutschland. „Timeshift“ ist ein Meisterwerk von hoher poetischer Ästhetik.