Foto: Michaela Schneider (Eurydike) und Yosemeh Adjei (Orpheus) glücklich vereint im Regensburger Orpheus. © Jochen Quast
Text:Martin Bürkl, am 24. September 2012
Eine neue Intendanz mit einem Stück für Kinder ab vier Jahren und Konfettikanonen zu beginnen, ist eine Aussage, die schwer wiegt. Kürzlich geschehen am Theater Regensburg. Nach einer weiteren Premiere im Schauspiel kommt nun das Hehre erst an dritter Stelle und der künstlerische Spagat ist perfekt: Unter Jens Neundorff von Enzberg – zuvor noch Operndirektor in Braunschweig – zieht das große Musiktheater in ein bisher eher Musical-geprägtes Haus ein.
Neu und anders waren zu ihrer Entstehungszeit auch die beiden mit dem antiken Orpheus-Mythos arbeitenden Werke von Weill und Gluck. Kurt Weill vertonte mit gerade einmal 25 Jahren Ivan Golls Orpheus-in-der-Moderne-Parodie „Der neue Orpheus“. Und er war selbst unsicher, welche Aufschrift die passende Schublade tragen sollte: „Concertino“, „Kantate für Sopran, Violine und Orchester“ (so der offizielle Untertitel), oder gar eine neue Gattung „zwischen Arie und Chanson“. Gut 160 Jahre zuvor hatten sich Christoph Willibald Gluck und sein Librettist Ranieri de’ Calzabigi vorgenommen, die Oper von Grund auf zu erneuern, sie von unnötigen Verzierungen und Manierismen zu befreien, kurz: sie zu entschlacken. Heraus kam eine auf die Quintessenz zusammengestrichene Konstellation dreier Figuren – die tote Eurydike, der unglückliche Orpheus, um seine verstorbene Geliebte trauernd und kämpfend, und der zwischen beiden vermittelnde und vor allem Orpheus schmerzlich prüfende Liebesgott Amor. In Glucks Werk von 1762 ist das schreckliche Ende des Mythos durch einen göttlichen Gnadenakt aufgehoben, 1925 hingegen gibt es für Weill nur einen Ausweg: den Selbstmord Orpheus’. Peter Lund (Regie) lässt das jüngere Werk Weills zuerst spielen. Nach minimaler Umbaupause erklingt Glucks Ouvertüre noch in den Applaus hinein. Aufgeführt wird die erste Wiener Fassung, musikalisch etwas gerafft.
Schon zu Beginn von „Der neue Orpheus“ wird klar, dass sich das Orchester mit der etwa 15-minütigen Komposition nicht ganz wohl fühlt. Bläser und Schlagwerk scheinen ein anderes Zeitgefühl zu haben, der monotone „Puls“, der einem massiven Streichereinsatz vorausgeht, gerät trotz deutlicher Angabe durch Tetsuro Ban am Pult etwas ins Wackeln. Über jeden Zweifel erhaben sind allerdings Johannes Plewas Solovioline und die Sopranistin Michaela Schneider, die als „Erzählerin“ Ivan Golls ursprünglich rhythmisch freien Text sehr verständlich vorträgt, ohne dabei überdeutlich artikulieren zu müssen. Überhaupt geht Schneider auch bei komplexen Orchesterpassagen in Weills erweiterter Harmonik nie unter – gleiches gilt für den zweiten „Star“, denn Plewa spielt seine Violine wie ein Florett, das in einigen Passagen zur unbarmherzig scharfen Rasierklinge wird. Grandios!
Orpheus’ Gesang wird in der modernen Welt von niemandem gehört, auch nicht von Eurydike. Bevor er sich das Leben nimmt, sieht er von einer Art Schaukasten in der Wand aus dem Treiben im Bahnhof der Großstadt zu. Über Claudia Doderers kalt-weiß reduziertes Bühnenbild, das auch gut eine unwirtliche Wohnung aus einer Architekturzeitschrift sein könnte, huschen wiederholt Statisten in Zwangzigerjahre-Kleidung über die Bühne: weiße Anzüge, Hüte und Schiffermützen. Auf die gesamte Szene wird in den Überleitungen Bildflimmern projiziert, ähnlich den letzten Metern Leerfilm im Kino – optisch also eine doppelt deutliche Verortung am Beginn des 20. Jahrhunderts. Mittendrin und im Gewimmel um sie herum manchmal verloren: die Erzähler-Sängerin mit grauem Mantel und altem Reisekoffer. Der Sinn dieses Zeitkolorits mag sich nicht ganz erschließen, denn aus der bloß klischeehaften Markierung der Entstehungszeit erwächst nichts Neues, vielmehr wird man von Weills Kantate zu sehr abgelenkt.
Vorhang zu, Vorhang auf – und da ist es, das Zitat einer theatralen Reduktion schlechthin: Auf einem zweiten Vorhang schwebt der auf die Spitze gestellte Würfel aus Robert Wilsons Pariser „Orpheus“-Inszenierung von 1999. Am richtigen Platz, im richtigen Größenverhältnis, nur alt, vergilbt und eben nicht dreidimensional. Das soll aber nicht heißen, dass der Regensburger Gluck (übrigens bekanntlich ein Oberpfälzer) farblos und altbacken daher kommt. Nein, hier ist Freude, Leben und vor allem Leidenschaft, sowohl bei den Solisten als auch dem homogen agierenden Opernchor und dem Philharmonischen Orchester Regensburg. Hier ist das Orchester in seinem Element, es spielt dynamisch und in großen Bögen, nur vereinzelt gibt es Unsauberkeiten bei leisen Passagen. Der Chor macht als Trauergemeinde in grauen Trenchcoats bei Eurydikes Beerdigung eine gute Figur und stellt Bilder, die aus Pasolinis strenger Verfilmung des Matthäus-Evangeliums stammen könnten. Überhaupt fällt auf, dass der Chor im szenischen Spiel sehr geübt und glaubhaft ist, auch als er später auf den vorderen Balkonen ein – nur leider etwas zu stereotyp gezeichnetes – Opernpublikum mimt, das mit dem Protagonisten mitfiebert. Claudia Doderers Bühne ist theatergeschichtsbewusst: der Wilson-Würfel bleibt, nun dreidimensional und sich drehend, fast die gesamte Zeit über im Bild, auch im Elysium der glückseligen Künstler stehen an Marcel Duchamp und Max Ernst erinnernde Skulpturen herum.
In diesen klaren und reduzierten Räumen können sich die drei Solisten wunderbar entfalten. Der Countertenor Yosemeh Adjei singt Orpheus mit einer mitreißenden, fast kindlichen Freude, und Michaela Schneiders Eurydike liebt und leidet sehr glaubwürdig. Dazu tritt Amor (Aurora Perry) in weißem, geblümten Petticoat-Kleid als nicht ungefährliche Liebesgöttin mit Lolita-Ambitionen auf: keck und ziemlich souverän. Der Solo-Trauergesang von Orpheus (zu Recht spontaner Szenenapplaus und Bravorufe) wird wunderbar begleitet, wobei vor allem die Streicher heftige dynamische Kontraste und feinste Lautstärkenuancen gleichermaßen akkurat herausarbeiten. Organisch verschränken sich Orpheus’ und Eurydikes Stimmen im Liebesduett – statt sentimentaler Drücker: Empathie, auch schauspielerisch. Und nach Weills jüngerem, negativ endendem Werk wird man nun mit einem von Chor und Liebenden angelegten Blumenbeet in einen glücklichen Abend entlassen. In der Zeit nach der Postdramatik darf das auch wieder sein.