Foto: Fellinis "Schiff der Träume" am Deutschen Schauspielhaus Hamburg. Sayouba Sigué, Michael Sengazi, Julia Wieninger, Ibrahima Sanogo © Matthias Horn
Text:Anne Fritsch, am 6. Dezember 2015
„E la nave va“ heißt der Film von Federico Fellini aus dem Jahr 1983, der in diesen Tagen auf deutschen Bühnen ein Revival erlebt, die deutsche Fassung: „Schiff der Träume“. Sehr verschiedene Träume freilich sind es, die die Passagiere an Bord des Luxusliners führen. Die einen, die illustren Gäste aus Kultur und Gesellschaft, begeben sich auf die Reise, um die Asche der Operndiva Edmea Tetua vor der Insel Erimo ins Meer zu streuen. Die anderen, die ungebetenen Gäste, kommen unterwegs hinzu: mit ihren Booten in Seenot geratene Flüchtlinge. Die Not auf See, das Zusammenprallen beider Gruppen auf engem Raum, die Frage nach dem Umgang mit den Hilfesuchenden – all das macht Fellinis Vorlage zum Theaterstoff der Stunde. Auch Äußerungen wie „Unter denen, die Sie als Flüchtlinge bezeichnen, sind professionelle Attentäter“, könnten genauso gut der aktuellen Diskussion um Paris und den IS entnommen sein wie dem 30 Jahre alten Film. Die Menschen und ihre Ängste sind weitgehend die gleichen geblieben. Johan Simons hat den Film schon 2011 an den Münchner Kammerspielen inszeniert, Uli Jäckle 2014 am Theater Freiburg, jetzt Karin Beier am Schauspielhaus Hamburg – und im März folgt Jan Gehler am Staatsschauspiel Dresden.
Karin Beier also nimmt sich die Grundidee des Films und entwickelt daraus einen ganz eigenen Abend. Der Vorhang lüftet sich und gibt den Blick frei auf einen großen leeren Raum, in dem die Schauspieler vereinzelt vor ihren Instrumenten sitzen. Ein tristes Orchester in einer Art Vorhölle. Das Bühnenbild von Johannes Schütz beschränkt sich auf ein Kubusregal, das die Kajüten darstellt. Ansonsten wird auf jede Schiffsästhetik verzichtet. Gestorben ist hier nicht die Operndiva, sondern der Dirigent, dessen letzter Wille von seinem als „Klangkörper“ bezeichneten Orchester verlangt, ihn in der Ägäis zu bestatten und dabei sein Werk „Human Rights Nr. 4“ aufzuführen. Eine Art Sprechgesang mit Percussion, in dem Sätze wie „Jeder hat das Recht auf Würde, Freiheit und Sicherheit der Person“ losgelöst vom Inhalt zur reinen Intonation verkommen und ad absurdum geführt werden. Die menschliche Würde, eine Worthülse ohne tiefere Bedeutung. Sagte doch auch der verstorbene Maestro Wolfgang: „Die Schönheit liegt immer in der Form, nie im Inhalt.“
Karin Beier und ihr großartig lethargisches Ensemble entwerfen im ersten Teil des Abends mit scharfem Blick und viel Humor eine gelangweilte Überflussgesellschaft, die zwischen Hummer und Jakobsmuschel über die Klack- und Schnalzlaute afrikanischer Stämme sinniert. Bonjour, tristesse! Großartigen Klamauk bescheren Charly Hübner und Michael Wittenborn, als ihnen die Urne mit der Asche des Maestro umkippt und beide verzweifelt versuchen, das Staubige wieder ins Runde zu kriegen: „So zerstreut kenn ich den gar nicht!“ Selten war so wenig Handlung so amüsant (außer bei Marthaler vielleicht).
Sie haben sich bequem eingerichtet in ihrer toleranten Komfortzone, in der die Menschenrechte allein der Selbstdarstellung und -beweihräucherung dienen und das einzige Problem ist, ob man jetzt vegan, vegetarisch oder doch den Hummer isst. Bis die Weltoffenheit durch die Flüchtlinge auf die Bewährungsprobe gestellt wird. Fünf Afrikaner kommen an Bord der „CS Europa“, Bettina Stucky verkündet spontan: „Das schaffen wir!“ Doch das Miniatur-Europa an Bord des Schiffs gerät schnell ins Strudeln: Berührungsängste machen sich breit, keiner weiß, was richtig ist. Einzig Josefine Israel als junge Weltverbesserin fragt nach: Warum wollen Sie nach Europa? Die Antwort überrascht: „Weil wir euch helfen wollen. Wir wollen eure Probleme mit euch teilen, wir lieben eure Probleme!“ Staatlicher Kindergarten oder doch Montessori? Haare blond oder rot färben?… Die afrikanischen Performer überrennen mit Humor und geballter Energie die Bühne und das Publikum, das sofort einbezogen wird in ein Afrika-Quiz. Michael Sengazi hält eine Unterrichtsstunde über bedrohte Arten weltweit – „endangered species around the world“ – in der diesmal die Deutschen behandelt werden, die in kleinstmöglichen Konstellationen wie Vater-Mutter-Kind oder Mensch-Hund zusammenleben und anschließend im Altersheim auf den Tod warten, dabei aber immer ihre Moral hochhalten (projiziert werden Bilder von Beckenbauer, VW, Uli Hoeneß…). Zukunftsfragen werden gestellt; die Vorgänge im Körper beim Ertrinken geschildert; Missverständnisse, Vorurteile und kollektive Ängste aufgezeigt.
Der Abend wird unbequem, lang, franst aus und rückt teilweise stark in die Nähe eines gut gemeinten Sozialprojekts. Karin Beier macht es sich und ihrem Publikum nicht leicht. Einfach die eigene Toleranz und Hilfsbereitschaft auf der Bühne anschauen und beklatschen, so einfach ist es halt nicht. Beier lässt nichts aus: nicht den guten Willen, aber auch nicht sein vielfaches Scheitern; nicht die Ängste, aber auch nicht die Möglichkeit, sie zu überwinden. Insofern ist dieser dreieinhalbstündige Abend ein guter. Auch, oder gerade weil er an der Komfortzone rüttelt. Weil er keine Antwort gibt, sondern Fragen stellt. Auch die, die wehtun.
Die gemeinsame Aufführung der „Human Rights“ von Orchester und Flüchtlingen jedenfalls scheitert grandios, dafür wird gemeinsam getanzt (hier ist Beier wieder bei Fellini). Doch dann müssen die Flüchtlinge an ein isländisches Patrouillen-Boot ausgeliefert werden, alle verfallen in Lethargie. Julia Wieniger fasst zusammen: „Auf dem Sonnendeck sind wir alle Humanisten.“ Bis es eben darum geht, die Haltung zu zeigen. Also musizieren sie weiter, bis eine Explosion alles in Schieflage bringt. Die Abrechnung übernimmt Servicekraft Frau Klein (Lina Beckmann): „Wer glaubt euch denn noch, ihr Talente der Eitelkeit? Kein Orchester, auch eures nicht, spielt noch Zukunftsmusik!“ Dann entlässt sie alle mit einem Augenzwinkern: „Das war unser Integrationstraining Deutschland – Afrika.“ Einiges war ganz gut, an anderer Stelle müsse noch gefeilt werden. Nächste Woche stehe der Nahe Osten auf dem Programm. Auch nicht leicht.