Foto: Alfred Kleinheinz als Heiner Müller in "Mauser" © Konrad Fersterer
Text:Anne Fritsch, am 28. April 2017
Es ist dunkel. Die Nebelmaschine wirft Schwaden in den Raum, aus den Lautsprechern ertönt Streichmusik. Am Rande des Raums liegen Tote. Im Laufe des Abends werden diese auferstehen, um wieder gemordet zu werden. Erschossen. Gemeuchelt. Oder um selbst zu Mördern zu werden. Der kroatische Regisseur Oliver Frlji? inszeniert im Münchner Marstall Heiner Müllers Revolutions-Lehrstück „Mauser“, benannt nach der Mordwaffe des Berufsrevolutionärs. Ein passendes Stück für einen, der hart an seinem Image als Enfant terrible des europäischen Theaters arbeitet.
Heiner Müller verhandelt in seinem 1975 in Texas uraufgeführten Stück den Widerspruch einer Revolution, die Gutes will und Schlechtes tut. Ein Revolutionär soll den anderen töten, weil dieser Zweifel hat an ebendiesem Töten. Nicht an der Idee der Revolution, nur an dem Mittel zum Zweck. Stellvertreter sind seine Figuren, die nur A oder B heißen und einem anonymen Chor gegenüberstehen. Bei Frlji? übernimmt jeder Schauspieler jede Perspektive: Der Mörder wird zum Ermordeten und umgekehrt. Will zeigen: Jeder kann alles sein, alles tun. Das Dilemma wird dadurch nicht kleiner. Der Mensch als Revolutionär, wie eine Maschine soll er seinen Auftrag ausführen, alle vermeintlichen Feinde der Revolution eliminieren. Unter seinem Militärmantel aber steckt doch der Körper eines Menschen.
Frlji? nun verlangt seinen Schauspielern wie gewohnt vollen Körpereinsatz ab. Da mampfen die Lebenden Mohrenköpfe von den Körpern der Toten, spielen Vergewaltigung mit zwei Leichen, da werden den Toten die Goldzähne rausgebrochen und den Lebenden die titelgebende Mauser so weit in den Mund geschoben, bis sie würgen. Wieder – wie schon bei „Balkan macht frei“, seiner Vorgänger-Arbeit in München – bewegt sich Frlji? an der tatsächlichen Schmerzgrenze seiner Schauspieler. Früher oder später ziehen sie sich alle aus, nehmen den Schwanz des anderen in die Hand und formieren sich zu einem merkwürdigen Standbild, kugeln nackt aufeinander durch den Raum und hacken anschließend nackt Holz. Dann schließlich kommt Alfred Kleinheinz ins Spiel, der bisher beobachtend am Rand saß. Er spielt Heiner Müller, der von der (natürlich nackten) Nora Buzalka zu Tode gestillt wird. Anschließend lässt auch er die Hosen runter und stellt sich den Fragen der Schauspieler. Die Frage nach dem Sinn? Dekadent. „Ich schreibe, um schlafen zu können.“
Frlji? geht mit allem und allen ins Gericht: mit Heiner Müller, der am Ende von den Schauspielern nach dem Sinn seiner Texte befragt wird, genauso wie mit sich selbst. „Mein Name ist Oliver Frlji?. Ich bin Regisseur. Ich komme aus Kroatien, diesem faschistischen Land auf dem Balkan.“, sagt Franz Pätzold in Nazi-Uniform. „Ich bin ein Bauer aus Kroatien. Ich arbeite in München am Residenztheater.“
Während im Hintergrund ein übergroßes Heiner-Müller-Portrait kritisch auf das Geschehen blickt, wechseln im Vordergrund Hektik und Stillstand ab. Einmal jagen sich alle slapstickhaft über die Bühne, dann wieder kehrt Ruhe ein, es passiert lange gar nichts. Merkwürdig Albernes wechselt sich ab mit körperlicher Gewalt bis an die Schmerzgrenze, Pathos mit Banalität. Die Texte, die gesprochen werden, wiederholen sich. „Tod den Feinden der Revolution“, heißt es immer wieder. Und: „Das tägliche Brot der Revolution ist der Tod ihrer Feinde.“ Nach diesem Motto werden alle eliminiert, die nur den geringsten Zweifel an der Revolution oder ihren Mitteln anmelden. Gebetsmühlenartig werden die immer gleichen Phrasen wiederholt.
Was herauskommt, ist merkwürdig unausgegoren. Über weite Strecken scheint es dem Regisseur vor allem um eines zu gehen: um eine Provokation des Publikums, wie sie ihm mit der Waterboarding-Szene in „Balkan macht frei“ gelungen ist. Diese Szene provozierte das Publikum nicht selten zum direkten Eingreifen ins Bühnengeschehen. Das wird hier nicht passieren. Der anhaltende Drang nach Provokativem aber lenkt von den wesentlichen Fragen des Stücks ab, wird auf seltsame Art zum Hauptthema des Abends. Klar, wenn Marcel Heupermann nackt die Nähe des Publikums sucht und sich solange selbst mit der Hand auf den Hintern schlägt, bis dieser anfängt zu bluten, dann ist das etwas, was man nicht gerne sieht. Ist es deswegen aber gut? Was nehme ich als Zuschauer davon mit, außer (was ich womöglich schon vorher wusste): Ich schaue nicht gerne zu, wenn ein nackter Schauspieler sich schlägt.
Klar, die Kunst darf das, wenn alle Beteiligten damit einverstanden sind. In Kroatien, seinem Heimatland, hat Frlji? so massive persönliche Angriffe erlebt, dass er das Land verlassen hat und dort nicht mehr leben kann und will. Das wird hier nicht passieren. Zum Glück. Hier darf die Kunst Grenzen ausloten. Das heißt allerdings nicht, dass alles Sinn macht, was dabei herauskommt.