Man könnte eine Stecknadel fallen hören. Während der ersten Szene von Martin McDonaghs schwarzhumorigem Kammerspiel „Hangmen“ herrscht im Staatstheater Wiesbaden absolute Ruhe. Die Zuschauer sehen den Delinquenten Hennessy (Maximilian Pulst), der an einem schäbigen Holztisch sitzt, nervös mit den Fingern nestelt und mit seinen flattrigen Augen den Zellentrakt sowie die beiden rechts und links hockenden Uniformträger mustert. Keinen Mucks gibt er von sich. Doch dann schlägt die Glocke für Hennessy acht Mal, der Henker Harry betritt mit seinen Helfershelfern die Szene, um den vermeintlichen Mörder aufzuknüpfen. Hennessy packt die Panik, er klammert sich an sein letztes bisschen Leben und beteuert seine Unschuld. Nein, stammelt er, er sei nicht Schuld an dem Tod des Mädchens, dessen Mord ihm in die Schuhe geschoben werde. Ein vergebliches Aufbäumen. Hennessy muss sterben. Der so kaltschnäuzige wie eitle Henker tut seine Pflicht – und fragt sofort danach: „Wo ist jetzt unser verdammtes Frühstück.“
Szenenwechsel: Der Gefängnistrakt hat sich in einen schmuddeligen Pub verwandelt (Bühnenbild: Matthias Schaller). Geführt wird die Kaschemme vom Ex-Scharfrichter Harry gemeinsam mit seiner Frau Alice, halb Schnapsdrossel, halb Lady mit einem Hang zum Ordinären. Zugleich spielt die souveräne Evelyn M. Faber auch ein Muttertier, dessen ein und alles die heftig pubertierende Tochter Shirley (Llewellyn Reichman) ist. Wir schreiben das Jahr 1965, in dem die Todesstrafe in Großbritannien abgeschafft wurde. Aus der Musicbox dödeln passenderweise Hits der Swinging Sixties, darunter „Help“ von den Beatles. Aber den ewig gestrigen Pub-Besuchern ist nicht zu helfen. Die altersschwache Musicbox lässt daran keinen Zweifel, denn ausgerechnet bei „Help“ gerät sie in eine Wiederholungsschleife, so dass der gesungene Hilferuf immer wieder erklingt.
Martin McDonaghs klassisch gebautes Krimi-Kammerspiel wurde im vergangen Jahr mit großem Erfolg in London uraufgeführt; Ingo Kerkhof stemmte nun in Wiesbaden die Deutschsprachige Erstaufführung auf die Bühne des Kleinen Hauses. Der Regisseur tut das als Arrangeur eines „well made play“, der jeder Nebenfigur, jeder individuellen Schrulligkeit zu ihrem Recht verhilft. Die zynische Schärfe, die in diesem Stück steckt, geht durch diese ehrpusselige Ausführlichkeit aber etwas verloren. Trotzdem arbeitet das Pub-Ensemble klar heraus, wie borniert die Saufkumpanen den schlechten alten Zeiten nachtrauert. Vor allem Harry, der in seiner blasierten Eitelkeit damit hadert, nur der „zweitberühmteste“ Henker Großbritanniens gewesen zu sein. Er platzt vor Stolz, als ein Interview mit ihm in der Regionalzeitung erscheint. Dass einige seiner Gehenken Opfer von Justizirrtümern sein könnten, ficht diesen Kerl nicht an. Tom Gerber karikiert seinen Harry gekonnt als eitlen Fatzke, der sich ständig am berühmtesten aller britischen Henker misst: an Arthur Pierrepoint (Uwe Zerwer), der während des Zweiten Weltkriegs und nach den Nürnberger Prozessen dafür gesorgt hat, dass es den Nazis an Kopf und Kragen ging.
Der 1970 geborene irische Dramatiker und Filmregisseur Martin McDonagh hat mit „Hangmen“ kein dröges Thesenstück über die Gefahr von Justizirrtümern geschrieben, stattdessen bietet er eine schrullige Typenparade und jede Menge Sarkasmen auf. Sein Stück ist bevölkert von Menschen, die ganz ihren dumpfen, aggressiven Gefühlen gehorchen, nicht ihrer Vernunft und dabei ihre unfreiwillige Komik, ja Lächerlichkeit entlarven. Sie sind Verfechter des „Postfaktischen“, das es natürlich schon gab, bevor die Vokabel bei uns in Mode kam.
Als der mysteriöse Mooney (Stefan Graf) in der Kneipe auftaucht und dann auch noch das Heulsusen-Töchterlein der Henkersleute verschwindet, gerät der Fremde in die Rolle des Sündenbocks. Hat er Shirley auf dem Gewissen? Oder will er der Kneipen-Clique, die bereit ist zur Lynchjustiz, bloß verdeutlichen, wie gefährlich Ressentiments sein können? Ein gefährliches Spiel, denn auch Mooney geht es an den Kragen.
Der Rest ist – wie der Beginn – Schweigen. Und eine Erkenntnis, die der reale ehemalige britische Henker Albert Pierrepont 1964 ausgesprochen hat. Im Programmheft wird sie zitiert: „Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass durch Hinrichtungen nichts gelöst wird, sie sind allenfalls antiquierte Relikte eines primitiven Rachebedürfnisses.“ – Man wünscht sich, dass diese schwarze Komödie möglichst bald auch in Ankara, Istanbul oder vor den Trump-Wählern im Mittleren Westen der USA gespielt wird.