Foto: Katja Bürkle und Chor in "Elektra" © Thomas Aurin
Text:Detlev Baur, am 16. Februar 2019
Am Ende, nach dem Ende fasert die Disziplin der Darstellerinnen dann doch aus, die Konzentration lässt nach beim Applaus, da wirkt Juliane Köhler dann desorientiert und eine Musikerin stolpert über eine der Boxen am Boden. Dabei scheint nun auf dem festen Bühnenboden – nach der zweistündigen Inszenierung im Dauerlauf auf dem immer sich drehenden, großen Scheibenturm – eigentlich alles sicher. Zuvor also haben die vier Protagonisten, die acht Chormitglieder, die sechs Musikerinnen und Musiker an den Seitenportalen und die Herrscher über die Mischpulte und Bühnenmaschinen einen unfallfreien und überwältigenden Abend in Ulrich Rasches nächstem Chor-Maschinen-Pathos-Theater geboten; wenn auch nach einer halbstündigen Verzögerung wegen der erschwerten Anreisebedingungen durch die Abicherungen der Sicherheitskonferenz und wegen eines EDV-Problems in der Beleuchtungsanlage.
Die vom Regisseur erdachte Bühne ist ein großer, hoher Käfig; im Zentrum der Bühne befindet sich eine große Drehscheibe auf einer schrägen Unterkonstruktion. Die wiederum dreht sich nicht nur, so dass die zum Dauerlauf gezwungenen Akteure um Katja Bürkle in der Titelrolle, mal hoch oben an der Kante ins Publikum spielen oder aber in schräger Draufsicht entfernt scheinen; der untere Turmteil fährt zuweilen auch noch auf seiner Basis einige Meter nach vorne oder hinten, so dass in Kombination mit dem Scheiben- und Turmdreh samt virtuos eingesetztem Licht (Gerrit Jurda) zahlreiche Perspektivwechsel möglich werden. Als Deckel auf diesem Käfig-Dreh-Topf hebt oder senkt sich noch eine weitere Gitterkonstruktion über die Drehscheibe. (Die Süddeutsche Zeitung hat zur Premiere einen ganzen Artikel der Bühne und ihren Machern am Theater gewidmet.)
Begleitet von den pulsierenden Schlagwerken und Synthesizer-Klängen sowie den melancholisch bis irr aufspielenden Streichern (Musik: Monika Roscher) gibt Katja Bürkle vom ersten Schritt an den Ton des Abends an: leidend ohne Abstriche, nicht jammernd, sondern sportlich eingerichtet im Kampf gegen die Welt alias Mutter. Unterstützung erhält sie dabei teilweise vom Chor, der ebenso im Gleichschritt stampfend klar und kämpferisch sich doch immer im Kreis dreht. Auch Lilith Häßle hält als eigentlich nachgiebigere, laue Schwester Chrysothemis mit der unerbittlich die Erinnerung an den toten Vater bewahrenden Elektra mit. Ebenso am Schluss Thomas Lettow als lange zurückgesehnter Bruder Orest. Juliane Köhler bringt als gleichfalls dauerleidende, verhasste Mutter Klytämnestra auch fast persönliche Töne ins laute Sprechspiel; ihr Schreiten ist weniger militärisch entschieden als das der anderen. Doch auch sie ist ein ziemlich perfektes Glied im disziplinierten Ensemble; andernfalls drohten auch physisch und künstlerisch der Absturz. Die bezeichnende Gangart des Abends ergibt sich, wenn zwei Darstellerinnen sich gegenüberstehen: Die eine läuft vor, die andere im Gleichschritt zurück. Zwischentöne, Zögern und Innehalten gelten hier nicht. Stattdessen verzahnt Rasches Regie wieder einmal den Text faszinierend mit der Bühneninstallation und mit den Darstellern im Zwang zum Dauerspiel.
Die Einsamkeit und Selbstsicherheit der Elektra, die nach außen gekehrte Dynamik des Hasses, das Leiden der anderen aus der Geisterfamilie, die chorische Vervielfachung der Konflikte verbinden Hofmannsthals Text und Rasches Regie bezwingend schlüssig. Die sprachliche Diktion wirkt an diesem Abend allerdings vielleicht auch deswegen zuweilen sehr artifiziell, weil die Textvorlage eher ein Opernlibretto ist als ein zeitloser Theatertext. Hofmannsthals „Elektra“ bringt das antike Personal ganz auf psychische, traumatische und hysterische Linie. Über die Fixierung der Figuren hinaus ist diese „Elektra“ weit weniger ein politisches Familienstück als bei Aischylos, Sophokles oder Euripides. Und so wird die große Stärke von Ulrich Rasches Theater hier auch zu seiner Schwäche: die intensive körperlich-räumliche und sprachliche Verbindung mit dem Ausgangstext.
Und dennoch hat auch das Ende wieder eine starke künstlerische und emotionale Kraft: Katja Bürkle ist nun ganz alleine im Drehscheibenturm, entblößt feiert sie die Musik aus ihr „heraus“; die Mission Muttermord ist erfüllt, sie ist nun endgültig am Ende mit ihrem Leben, erhellt von eine Art Heiligenschein schaffenden Schweinwerfern über ihr werden ihre Bewegungen in Fuß und Sprache normaler, verhaltener, ihr Triumph ist ihr Ende.