Foto: Cara-Maria Nagler, im Hintergrund Andreas Hammer in "Monster wie wir" am Anhaltischen Theater Dessau © Claudia Heysel
Text:Thilo Sauer, am 17. Oktober 2021
Wie ein Mahnmal liegt eine lange Platte in der Mitte des Foyers des Alten Theaters, der Nebenspielstätte des Anhaltischen Theaters Dessau. Mit ihrer grauen Farbe und den quer verlaufenden Furchen wirkt das Monument wie ein massiver Steinquader. Unerwartet kommt Unruhe auf: Die Oberfläche bewegt sich kurz und ein lautes Knallen ist zu hören. Nach einigen Versuchen klettert eine in schwarz gekleidete Frau heraus, schließt das Loch wieder und setzt sich ans Klavier. Während sie Beethovens Mondscheinsonate spielt, kämpft sich noch ein Mann in schwarzer Kleidung unter der Platte hervor. Gemeinsam erzählen sie von einem Aufwachsen im Osten zwischen DDR und Wiedervereinigung.
Die Autorin Ulrike Almut Sandig ist vor allem für ihre Lyrik bekannt, die sich durch hohe Musikalität und feines Sprachgefühl auszeichnet. Schon in diesen kurzen Texten fängt die Autorin geschickt Stimmungen und Situationen ein. „Monster wie wir“ war ihr erster Roman. Darin erzählt sie, wie Gewalt sich fortsetzt und wie Menschen mit ihren seelischen Wunden leben können.
Ruth und Viktor lernen sich im Kindergarten kennen und obwohl sie auf den ersten Blick so unterschiedlich sind, werden sie innige Freunde. Vielleicht weil ihre Verletzungen ähnlich sind: Viktor erzählt Ruth eines Tages, dass der Mann seiner älteren Halbschwester sich von dem Kind oral befriedigen lässt. Ruth tut überrascht, doch auch ihr Großvater geht unsittlich mit ihr um. Diese Misshandlungen werden von den Eltern nicht aufgearbeitet und die Kinder verschließen den Schmerz. Ruth flüchtet sich in die Musik und Viktor findet Stärke bei seinen Neonazi-Freunden.
Starke Darstellung
Regisseurin Katrin Plötner hat den Roman stark fokussiert: auf den sexuellen Missbrauch und die Freundschaft. Die langen Beschreibungen von Gewalt werden ausgelassen. Andere Figuren neben den beiden tauchen nur schattenhaft auf. So ist ein stimmiger und eindrücklicher Abend entstanden.
Bühne und Kostüme von Anna Brandstätter sind großartig: vielschichtig und bedeutungsstark, aber nicht aufgesetzt. Sandig, die inzwischen in Leipzig lebt, siedelte ihre Geschichte in einem Braunkohle-Gebiet an. Die Wunden ziehen sich somit auch durch die Landschaft. Brandstätter greift das auf und legt Kohle unter die Platte, die Sinnbild für eine verborgene Stärke aber auch für Schorf sein könnte. Im Laufe der Inszenierung wird die Platte immer weiter auseinandergenommen – die Wunden vertiefen sich. Die schwarzen Kostüme sind ebenfalls zerschnitten und werden von mehreren Fäden zusammengehalten. Durch einen kleinen Trick rutschen diese ebenfalls immer weiter auseinander, sodass sich die Zerbrechlichkeit auch hier verdeutlicht.
Der Abend lebt vom Zusammenspiel. Cara-Maria Nagler und Andreas Hammer entwickeln auf der Bühne eine intensive Beziehung. Vor allem die kindliche Freude transportieren sie wunderbar mit ihrem Spiel, wenn sie beispielsweise dynamische auf und ab springen und vom Hüpfspiel auf dem Sofa erzählen. Gemeinsam mit Katrin Plötner haben passende Bilder entwickelt, die nach Spiel und Spaß aussehen. Nur die Musikeinlagen wirken etwas lang und bemüht.
Leben mit Schmerz
Diese Freude bricht die Regisseurin auch immer wieder auf, indem sie starke Anspannung entstehen lässt. Unerwartet erzählt Cara-Maria Nagler als Ruth an einer Säule im Foyer gelehnt, wie ihr Großvater sie anfasst, und der Schock im Publikum ist zu spüren. Später, mitten in einem Spiel mit Viktor, verkrampft sich ihr Körper. Schließlich erzählt Ruth ihrer Mutter davon: Es gäbe Vampire, die Menschen aussagen. Die Mutter, die von Viktor-Schauspieler Andreas Hammer gemimt wird, winkt erst ab – das seien nur Insektenstiche. Als Ruth sagt, Großvater sei der Vampir, beginnt Hammer als Mutter manisch zu putzen. Nagler wiederholt, dass sie nur gestreichelt und in ihrem Schmerz gesehen werden wollte, so oft, bis sie selbst anfängt, die Mutter zu trösten.
Die Stärke der Inszenierung von „Monster wie wir“ in Dessau liegt vor allem darin, dass sie Verletzungen und Misshandlungen weder voyeuristisch ausstellt noch kleinredet. Katrin Plötner erzählt nicht einfach von Opfern, sondern von Menschen und vor allem von Freunden. Die Gewalt taucht punktuell und weckt beim Publikum Mitgefühl sowie den Wunsch, das zu verhindern. Doch es wird auch erzählt, die beiden weiterleben und Stärke finden. Genau diese Mischung aus Schmerz und ein wenig Hoffnung sorgt dafür, dass das Publikum das Thema nicht aus Bequemlichkeit oder Selbstschutz von sich schiebt, sondern sich damit auseinandersetzen will. Höchstes Kompliment für diese Produktion.