Foto: "Stiffelio" am Theater Krefeld/Mönchengladbach © Matthias Stutte
Text:Andreas Falentin, am 30. September 2013
Kein Liebesduett. Nicht mal ‘ne Liebesarie. Kein Schmelz. Ganz wenig „Humtata“. Dieser unbekannte, von Verdi selber hochgeschätzte „Stiffelio“, Rigolettos unmittelbarer Vorgänger, ist wirklich ein merkwürdiges Stück.
Da hat einer auf der Flucht in Tirol eine merkwürdige protestantische Sekte gegründet, unterstützt von dem verwitweten Stankar auf der Suche nach dem Seelenheil, und dessen Tochter Lina geheiratet. Die verliebt sich später in einen anderen Mann, der schließlich von ihrem Vater umgebracht wird. Das sehen wir alles nicht. Sektengründung und Ehebruch liegen vor Beginn der Handlung – und der Mord findet hinter der Bühne statt. Wir sehen nur Figuren, die rasender Eifersucht, Ehrversessenheit und Gewissensqualen ausgeliefert sind. Dazu kommt eine sehr eigenwillige, meistens qualitativ hochwertige, unerwartet moderne Musik mit, gerade an Anfang und Ende, exzessivem Piano-Gesang. Weit ausgespannte Gesangsphrasen werden da gegen kleinteiliges Orchesterspiel gesetzt. Die Szene verdrängt die Gesangsnummer als wichtigste dramaturgische Einheit wie später in „Rigoletto“. Die oft geteilten Streicher verweisen schon auf „Aida“, die überlebensgroß-destruktive Vaterfigur auf „La Traviata“, die Tenor-Titelfigur auf den Titelhelden in „Otello“.
Die Mönchengladbacher Inszenierung zeigt die Gemeinde als geschlossenes System. Hartmut Schörghöfer fasst die Bühne mit Wänden in harter, leicht changierender Metalloptik ein. Manchmal öffnet sich ein Sichtfenster in der Rückwand und zeigt ein idyllisches Dorf an einem See. Helen Malkowsky nutzt die für Verdis Verhältnisse lange Ouvertüre mit der irritierenden Solo-Trompete für ein virtuoses stummes Tableau. Mit klaren Zeichen führt die Regisseurin einen ritualisierten Sektenalltag vor, zeigt bereits hier geistige Trägheit, die sich in Bigotterie flüchtet, Menschen, die unfähig – geworden? – sind, Konventionen zu hinterfragen und mit dem eigenen Gefühlshaushalt reflektiert umzugehen.
Vor diesem Hintergrund gelingen kräftige Figuren. Mit ausladendem Bariton und fast beängstigender Bühnenpräsenz gestaltet Johannes Schwärsky bezwingend den Ex-Offizier Stankar, kriegswund an Leib und Seele und ehrversessen aus Haltlosigkeit. Izabela Matula gestaltet mit leuchtendem und geläufigem, in der Höhe etwas hartem Sopran seine zwischen verschiedenen männlichen Fremdbestimmungen hin- und hergerissene Tochter und Michael Lee Wade ist ein sehr versammelter Stiffelio mit leicht ansprechendem, bronzen überglänzten Tenor. Es brodelt spürbar permanent in diesen Figuren, sie ringen mit sich, sind in sich selbst gefangen bis hin zur Kommunikationsstörung.
Im Schlussakt greift Malkowsky folgerichtig in Verdis Dramaturgie ein. Sie lässt den Mord auf offener Bühne und in der Kirche geschehen. Nach der von Stiffelio pianissimo vorgetragenen Bibel-Episode von der Ehebrecherin komponiert Verdi eine fast schüchtern anmutende, allgemeine Verzeihung. In Mönchengladbach konterkariert Stiffelio diese durch Enthüllung der Leiche. Die Tat ist in der Welt. Man kann nicht einfach weitermachen. Es hilft nur Therapie. Ein echtes Statement. Aus dem Stück entwickelt und gegen es ins Feld geführt.
Musikalisch ‚sitzt‘ der Abend. GMD Mihkel Kütson etabliert, auch mit dem hervorragenden Chor und dem zu viel Piano-Disziplin verpflichteten Ensemble, einen klar konturierten, transparenten und gleichzeitig sehr dynamischen Klang, aus dem die sehr präsenten, delikat spielenden Streicher herausstechen. Instrumente und Gesang leisten hier sehr deutlich – offensichtlich im Einklang mit der Inszenierung – nicht nur Versinnlichung des Geschehens, sondern schaffen auch epische Distanz. Der Zuschauer findet Menschen auf der Bühne, aber keine Freunde, keine Helden. Er soll nachdenken.
Dass das Mönchengladbacher Theaterleben in Ordnung ist, wird nicht zuletzt durch die Tatsache dokumentiert, dass der Oberbürgermeister der Stadt am Premierenabend vor den Vorhang trat, um das Publikum zum Spielzeitbeginn zu begrüßen und die Wertschätzung des Theaters durch die Politik zu bestätigen. Wo gibt es das heute?