Foto: Juliane Pempelfort, Anna Lisa Grebe, Heiner Stadelmann und, im Hintergrund, Peter Warosin der deutschsprachigen Erstaufführung von Florian Zellers "Vor dem Entschwinden" © Marco Piecuch/Rheinisches Landestheater Neuss
Text:Andreas Falentin, am 11. Januar 2020
Ein Paradox: ein zeitloses und brennend aktuelles Stück. In „Vor dem Entschwinden“ geht es über den Zustand der sozialen Institution Familie am Anfang des 21. Jahrhunderts, vor allem aber um das Altern an sich und heute in einer westlichen Wohlstandsgesellschaft. Wo das Leben immer länger wird, was bekanntermaßen nicht ausschließlich Vorteile hat.
Der in Paris geborene Autor Florian Zeller wurde mit Komödien wie „Eine Stunde Ruhe“ bekannt, hat sich aber auch bereits in mehreren Arbeiten fürs Theater mit Familie auseinandergesetzt, zuletzt mit „Der Sohn“. Wie viele seiner Stücke steht auch „Vor dem Entschwinden“ in der Tradition des französischen Konversationsstücks eines Anouilh, Giraudoux oder Audiberti, gleichsam in einem Spannungsverhältnis von subtil-eleganter Dialogführung, wirkungsmächtigen Pointen und luftiger Poesie.
Vater, Mutter, zwei Töchter, ein Wochenende. Das ist die Grundkonstellation. André ist alt und dabei seiner Umgebung verloren zu gehen, also nach heutiger Terminologie: dement. Seine Frau Madeleine umsorgt ihn, blüht dabei auf und vergeht vor Sorgen. Anne, die ältere Tochter, ist zu Besuch, um Dinge zu regeln, etwa die Unterlagen ihres berühmten Schriftsteller-Vaters zu ordnen, in denen der Verleger noch Umzusetzendes wittert. Élise, die jüngere Tochter, ist gekommen, weil sie sich ihrer Familie versichern will. Sie sucht Geborgenheit und will wieder mal einen neuen Freund vorstellen.
Zeller erzählt dieses Wochenende nicht chronologisch und vor allem nicht als eine Geschichte. Immer wieder werden wir irritiert, machen Dialogfetzen neue, kleine Erzählungen auf. Es wird von einer Beerdigung gesprochen, ein Zeitungsartikel scheint vom Protagonistenpaar zu erzählen, was von diesem unbemerkt bleibt. Vielleicht ist also alles ganz anders. Vielleicht ist also Madeleine bereits gestorben, vielleicht an einer Pilzvergiftung, vielleicht haben sich sogar beide umgebracht, in jenem Hotel in Paris, wo sie ihre Hochzeitsreise verbracht haben. Und die Hinterbliebenen halten jeweils Zwiesprache mit den Toten.
Es ist die große Leistung des Regisseurs Tom Gerber, dass das Publikum diese Irritationen, dieses innovative, leicht verschrobene Erzählen ganz selbstverständlich hinnimmt. In der Deutschsprachigen Erstaufführung auf der Studiobühne des Rheinischen Landestheaters in Neuss überlagern sich die Ebenen leicht und unangestrengt, verdichten sich wie von selbst zu flirrender Melancholie – und vor allem zu kraftvollen heutigen Figuren.
Als sein eigener Ausstatter hat Gerber ein Sandviereck auf die kleine Bühne gestellt. Parallel zur Rampe befinden sich in halber Tiefe des Raumes und am Bühnenende zwei Wände aus Riffelglas, durch die immer wieder Bilder und Vorgänge zu ahnen sind. Dazu kommen wenige, klug eingesetzte Requisiten. Gerbers Inszenierung ist bildkräftig, aber nie laut. Es wird durchgängig leise aber sehr gut artikuliert gesprochen. Sowenig man sich an der Handlung festhalten kann, so sehr setzen sich die glasklar umrissenen, glaubhaften Figuren einem geradezu auf den Schoss. Man möchte den André von Heiner Stadelmann nicht unbedingt pflegen, aber kennenlernen würde man ihn schon gerne, intelligent und warmherzig, wie er ist, mit seiner ganz eigenen Sicht auf die Dinge. Madeleine, seine Frau, ist bei Christiane Lemm eine, die liebt und umsorgt. Anna zeigt Juliane Pempelfort als die Tochter, die sich vom sprichwörtlichen Ernst des Lebens um jeden Genuss bringen lässt und deshalb das Pech anzieht, Élise ist bei Anna Lisa Grebe das ewige coole Mädchen, das sich aber seine Herzlichkeit bewahrt hat.
Florian Zeller und Tom Gerber zeigen uns diese vier durch und durch sympathischen Menschen, diese Familie, die kaum mehr eine ist, als wär’s ein Stück von uns, halten aber Distanz mit den Mitteln der Poesie. Da tauchte eine weitere Frau auf und erzählt aus der Vergangenheit. Erst denkt man, sie soll das Bild anreichern und die Figuren von André und Madeleine weiter verdichten, dann merkt man, dass auch sie mehrere sich überlagernde Geschichten in einer erzählt. Hergard Engert verweist also in erster Linie auf die Erzählstruktur und fügt ihr die Vergangenheitsebene bei. Als Glanznummer, versteht sich. Schließlich harkt fast die ganze Zeit ein Mann den Sand glatt, selbst beim Schlussapplaus. Die Kapuze seines Parkas verdeckt sein Gesicht. Immer wieder fixiert ihn André. Später nimmt Peter Waros seine Kapuze ab und spielt zwei kleine Rollen mit fast identischen Berufen. Auch das ist eine schöne Pointe: Der Tod ist ein Immobilienmakler.
Tom Gerber unterfüttert diese lebensechte Hommage ans Rollenspieltheater mit feinen Lichtwechseln und subtilen Geräuschkaskaden. Nur bei der Musik verreitet er sich. Können wir Anna Lisa Grebes Auftritt mit Gitarre, Loopmaschine und Indianerkopfputz zu Beginn mit etwas Mühe noch als Gegenbild zum Alter interpretieren, als junge Versponnenheit in der Nähe alter Demenz, so wirkt ihr ähnlicher Auftritt am Schluss nur laut. Er entlässt die Zuschauer aus der großartigen Spannung der Aufführung. Aber das möchten wir eigentlich gerne selber tun. Noch sind wir dafür nicht zu alt. Hoffentlich.