Foto: Plädoyer für den Sonntag: "All diese Tag" in Bremen. © Jörg Landsberg
Text:Jens Fischer, am 2. Mai 2012
Puh. Selbst im Traum ist es einfacher die Übersicht zu behalten, als auf der Bühne des Bremer Theaters am Goetheplatz. Dort perkussionieren Jungs und Mädchen in „Stomp“-Manier. Eine Orgel braust auf, Kinder- und Erwachsenenchor feiern Hallo-Wach-Crescendi, Vuvuzelas tröten, Streicher schluchzen und jubilieren, E-Gitarren-Riffs heben an. Alleinunterhalter-Rap gibt es, Videos beflirren das Geschehen. Discogetanze, Cheerleadinggepuschel, Papierknödelschlachten. Und Opernsänger balancieren auf fast Belcanto-virtuosen Melodielinien einige Wortfetzen, die leicht zeitversetzt auch eingesprochen und als Übertitel dazuprojiziert werden.
123 gleichzeitig neben-, über-, unter-, miteinander vor den Publikumsaugen künstlernde Menschen hat Dirigent Florian Ziemer ausgemacht. Ein solcher Zählakt ist dem Zuschauer im ununterbrochen überbordenden Wechseln von Farben, Stimmungen, theatralen und musikalischen Ausdrucksmitteln gar nicht möglich. „Vielfalt und Überforderungen prägen unseren Alltag“, erläuterte Regisseur Michael Talke. Genau das definiert sein Inszenierungskonzept wie auch das Kompositionsprinzip von Moritz Eggert für die Uraufführung von „All diese Tage“. Einerseits wird so mit den Mitteln einer fragmentarisierten Wirklichkeit über diese reflektiert, wobei eben die Kontinuität eines Musiktheaterwerkes zu zerbrechen hat. Andererseits soll so im Schatten des optisch-akustisch explodierenden Bühnenfeuerwerks – die Leere schmerzhaft spürbar werden. Die unerfüllten Sehnsüchte, Hoffnungen, Träume, die Jugendliche nach all dem Wochentagseinerlei mit dem Sonntag verbinden.
Einige Dutzend Interviews hat Schriftstellerin Andrea Heuser mit Bremer Jugendlichen geführt. Mit den O-Tönen konstruierte sie analytisch diszipliniert 14 Alltagszenen. Es gibt keine Geschichte oder roten Faden, dafür soziale Momentaufnahmen. Die Themensplitter sind nicht neu. Ein Junge hat hunderte Freunde bei Facebook, aber keinen, den er kennt – er flüchtet sich in Computerspielwelten und Spiderman-Kostüm. Ein Vater aus dem Niedriglohnsektor überschüttet seine Tochter mit Büchern, damit sie es einmal besser habe. Einer Mutter fehlt die Ganztagesbetreuung für den Sohn, so muss er sie zum Putzjob begleiten und buhlt dort mit „Was ist …?“-Fragen um Aufmerksamkeit. Zur „Zeitoper“ erklärt Moritz Eggert das Werk. Vor allem weil es den Jugendlichen um Zeit geht, um gemeinsam verbrachte Zeit mit der Familie und Freunden. Aber diese sind meist zu müde, zu genervt, zu desinteressiert oder einfach nicht da. Talke fand den Aspekt so überraschend wie bedeutsam, dass er die Aufführung zuspitzte als Plädoyer für den gesetzlichen Ruhetag. Auf einem immer wieder aus dem Schnürboden herabschwebenden Zwischenvorhang steht: „Rettet den Sonntag!“
Musikalisch lässt die Produktion Opernkunstwillen und Jugendalltag in den Dialog treten. Es geht dabei nicht darum, Realität ins Künstliche zu erhöhen, sondern ins Emotionale zu vertiefen – also mit Klängen zu evozieren, was sich hinter ganz gewöhnlichen Alltagssätzen verbergen könnte. Auch kommentierendes Eingreifen wird vorgeführt. Schlanker, cooler, schöner werden wollenden Blondinen tirilieren eine Popballade, deren alberne Schlichtheit sich über das Anliegen der Sängerinnen lustig macht. Damit die Revue der Genres dem geneigten Hörer nicht um die Ohren fliegt, klatschen, stampfen, schnipsen, schnalzen, klöppeln, schuhplatteln, schlagwerken immer Dutzende Rhythmusarbeiter am Zusammenhalt. Das gelingt mit Verve. Leider ist die Zapp-Hektik der Aufführung aber derart groß, dass es kaum möglich ist, sich mal auf eine Situation, eine Figur, ein Klangereignis einzulassen. Puh. Das sinnenbetäubte Premierenpublikum erwacht jubelnd aus der Überwältigungsstarre.