Mari Ishida, Jacob Phillips und Ensemble in „Fortuna”

Über Glücksrausch und Grenzgänge

Felix Landerer / Giuseppe Spota: Fortuna

Theater:Theater Bielefeld, Premiere:17.01.2025 (UA)Komponist(in):Christof Littmann

In der Bielefelder Premiere von „Fortuna“ machen sich gleich zwei Ensembles auf eine tänzerische Reise, um die Zerbrechlichkeit von Glück und die Launen des Schicksals zu erkunden – und versuchen dabei, Struktur in die chaotische Suche nach Erfüllung zu bringen.

Wer bei der Frage nach Glück an romantische Floskeln oder abgedroschene Klischees denkt, wird von „Fortuna“ eines Besseren belehrt. In der Uraufführung – dem jüngsten Werk der Choreografen Felix Landerer und Giuseppe Spota – entsteht in Kollaboration zwischen dem Ensemble des Bern Ballett und TANZ Bielefeld ein vielschichtiges Bild. Auf einer quadratisch eingerahmten, leuchtend grünen Bühne entfaltet sich die Jagd nach Glück – ein Spiel zwischen kollektiver Harmonie und individuellem Streben, zwischen Ordnung und Chaos, Disziplin und Zerbrechlichkeit.

Nach ihrer letzten gemeinsamen Arbeit an „Odysseus“, die 2023 Premiere feierte und in der Landerer und Spota eine Verbindung von Kollektiv und Einzelschicksalen inszenierten, führen sie diese tänzerische Sprache fort und widmen sich einem philosophisch und emotional aufgeladenen Thema. In neun Kapiteln, die sich wie Zyklen wiederkehrender Muster entfalten, inszenieren sie eine tänzerische Erzählung, die das Streben nach dem oft flüchtigen Ziel „Glück“ ebenso hinterfragt wie dessen Folgen. Am Ende bleibt das Gefühl, dass jeder Abschluss zugleich der Auftakt zu etwas Neuem ist.

Das Ensemble im Gleichschritt

Das Kollektiv im Gleichschritt. Foto: Jubal Battisti

Der kantigen Bühne setzt Till Kuhnert eine kreisförmige Aneinanderreihung von Deckenscheinwerfern entgegen, die das Spielfeld des Schicksals entscheidend mitsteuern und die Tänzer:innen wie Spielfiguren erscheinen lassen. Umrahmt von einer großen, ringförmigen Konstruktion wird die klare geometrische Struktur des Bühnenbildes hervorgehoben und die Asymmetrie der Choreografie im Wechselspiel unterstrichen.

Die Dynamik des Unbekannten

Bereits der szenische Auftakt des Abends schafft eine atmosphärische Dichte, die für Unmittelbarkeit sorgt. Im Dunkel des Raumes setzt eine treibende, sich beschleunigende Musik ein, deren Takt an einen immer schneller werdenden Herzschlag erinnert. Im Zentrum der Bühne erscheint ein Lichtkegel, der sich langsam zu einem Kreis formt. Entlang dieser Linie marschieren die Tänzer:innen als Kollektiv – emotionslos, gleichförmig und in roten Anzügen gekleidet (Kostüm: Irina Shaposhnikova). Die Choreografie spielt hier mit der Idee der Wiederholung und der Rastlosigkeit: die endlose Suche nach einem unerreichbaren Ziel, das irgendwo im Zentrum dieses Kreises zu liegen scheint.

„Fortuna“ zeigt sich geprägt von fließenden, ineinander verwobenen Bewegungsfolgen, die zwischen Kollektiv und Individuum wechseln. Tänzer:innen lösen sich aus Formationen, verzerren ihre Körper, brechen mit der Bewegung oder sinken abrupt zu Boden. Eine Störung der Muster. Der ständige Wechsel von Aufstieg und Fall macht die Fragilität des Strebens physisch spürbar und lässt zugleich Momente der Individualität aufscheinen.

Theo Arran auf der individuellen Suche nach Glück

Theo Arran im Spiel mit dem Glück. Foto: Jubal Battisti

Musik, die Räume schafft und Tanz, der sie füllt

Einen zentralen Beitrag zur Wirkung des Stücks leistet die Komposition von Christof Littmann, der für die Kapitel des Abends rhythmisch elektronische Klänge komponiert hat und diese ineinander übergehen lässt. Abseits der sonst aufreibenden Klänge entfaltet sich in einer Szene ein Moment der Ruhe und bringt eine beinahe nostalgische Grundstimmung hervor. Theo Arran tritt hier in einen direkten Dialog mit dem Glücksrad, begleitet von fast schon meditativen Klavierakkorden. Das Rad hebt ihn scheinbar empor, doch in einem Augenblick fällt es flach auf den Boden – ein Moment des Loslassens und der Akzeptanz des Unglücks?

Die „kosmischen Räder des Glücks“ sind ein wiederkehrendes Motiv, das als Requisite auf der Bühne die Tanzsprache ergänzt und als eindeutiges Symbol fungiert. Eine zentrale Szene zeigt den Wandel einer Tänzerin zur Olympia-Teilnehmerin, die vom Kollektiv mit einer immer dichter werdenden Anordnung von Rädern umhangen wird, bis diese sich wie eine schützende, zugleich körperlich beengende Kugel um sie schließen. Zuvor wird der rote Anzug abgelegt und darunter ein eng anliegendes, figurbetontes Outfit à la Olympia enthüllt. Begleitet von der Aufzeichnung eines Sportkommentators, untermalt vom Jubel und Applaus des Sportpublikums, entfaltet die Szene eine bittersüße Ambivalenz: Während die vermeintliche Glücksgöttin vom Kollektiv gefeiert wird, bleibt für die anderen nichts übrig. Auch die Kugel erinnert an die symbolträchtige Figur Fortuna aus der römischen Mythologie – ein Sinnbild für das fragile Gleichgewicht von Glück und Schicksal, ein Balanceakt.

Naomi Shirel Turnpu als Glücksgöttin

Naomi Shirel Turnpu im Spotlight des Glücks. Foto: Jubal Battisti

Ein ironisches, versöhnliches Ende mit Nachhall

Nachdem die Räder schließlich unter den Tänzer:innen verteilt sind, formiert sich das Kollektiv mit klaren, strikten Bewegungen unter Marschmusik in Reihen. Die Ringe der Olympischen Spiele lassen sich erkennen, als die Räder leicht verschoben aneinandergereiht werden. Die übersteigerte Feierlichkeit bringt eine humorvolle Leichtigkeit ins Spiel, ohne dabei die tiefere Fragestellung aus den Augen zu verlieren. Ein verspieltes Finale mit fast schon ironischem Unterton – und doch bleibt die Inszenierung eine philosophische Reflexion.

Das Stück beeindruckt durch seine Vielschichtigkeit und fängt durch Störungen Momente auf, die drohen ins banale Klischee abzurücken. Landerer und Spota gelingt eine konsequente Verknüpfung von Bewegung, Musik und visuellen Elementen, während sie die Frage nach Glück ungelöst lassen und als dynamisches, nicht statisches Ziel darstellen. Statt Antworten zu liefern, schicken sie das begeisterte Publikum auf die eigene Suche. Getragen von der starken Ensembleleistung ist die Stimmung nach der Premiere ausgelassen – und irgendwie leicht.