In Wien muss er nun einen Riesen-Apparat lenken, der nach völlig anderen Prinzipien geordnet ist als das Ballett am Rhein, wo die Kompanie nicht hierarchisch organisiert war, sondern nur aus Solisten bestand. In Wien aber sind die Hierarchien im Ensemble nach wie vor etabliert, es gibt Erste Solisten, Solisten, Halbsolisten und das Corps de Ballet und zudem sind unter dem Dach „Wiener Staatsballett“ zwei Kompanien versammelt: die ungleich größere der Staatsoper und die der Volksoper, die auch die Sparten Oper, Operette und Musical bedienen muss.
Gebremst durch Corona ist Schläpfers Start nun erzwungenermaßen holprig. Im September gab es als erste Premiere unter dem Titel „Hollands Meister“ an der Volksoper drei neu kombinierte Werke aus dem Repertoire, das Echo in der Presse war freundlich, aber verhalten. Der zweite Lockdown traf Schläpfers erste eigene Wiener Produktion mit voller Härte: In der Probenzeit zu „4“, einer Choreografie auf Mahlers 4. Sinfonie gab es 17 positive Fälle im Staatsballett, zwar nicht gleichzeitig, aber die unterschiedlichen Quarantäne-Zeiten kosteten zehn wertvolle Probentage. Und bald wurde klar, dass die Premiere vor leeren Reihen stattfinden würde, immerhin live – leicht zeitversetzt – gestreamt auf Arte CONCERT, später einmalig im ORF gesendet, aber als Stream abrufbar bis zum 4. März.
Schläpfers Mahler-Choreografie veränderte sich durch die Ausrichtung auf die Kameras, auch die fehlenden Probentage und die Erkrankungen ließen letztlich nur eine Szene zu, in der alle 103 Mitglieder beider Kompanien gemeinsam auf der Bühne waren – geplant waren derer ursprünglich drei. Wie üblich hat Schläpfer der eigenen Uraufführung ein zweites Werk vorgeschaltet und sich mit Hans van Manens „Live“ von 1979 erneut vor seinem großen Idol verneigt. Tatsächlich wirkt dieses erste Videoballett der Theatergeschichte mit einer Tänzerin, einem Tänzer (grandios: Olga Esina und Marcos Menha), einem Kameramann (Henk van Dijk) ästhetisch taufrisch und coronatauglich. Im leeren Opernhaus spielen einige Szenen im Foyer und den Gängen, am Schluss verschwindet Olga Esina draußen auf der kaum belebten, dunklen Ringstraße.
Nach dieser visionären Einsamkeitsstudie van Manens bevölkert sich das Opernhaus für Schläpfers Uraufführung zumindest im Graben: Seit den Salzburger Festspielen arbeiten die Wiener Philharmoniker in Proben- und Auftrittsphasen mit täglichen Schnelltests, sie sitzen also mit voller Mahler-Besetzung im Graben, am Pult steht der Düsseldorfer GMD Axel Kober, der mit Schläpfers Arbeit innig vertraut ist.
Auch die Kompanien haben tägliche Tests absolviert, sodass die Abstandsregeln obsolet sind. Bühnenbildner Florian Etti – auch er ein Weggefährte aus Düsseldorfer Zeit – hat einen weiten, schwarzen Raum geschaffen, in dem einzig das Licht für Strukturen sorgt und ein auf einer seiner kurzen Seiten stehendes Dreieck an der Rückwand als archaisch abstraktes Zeichen prangt.
Kober gibt im Graben gemäßigte Tempi vor, Schläpfer kommen das Episodische von Mahlers Vierter, ihre jähen Stimmungsumschwünge spürbar entgegen. In raschem Wechsel inszeniert er Szenen höchster Intensität und Intimität, in denen um Existentielles in Zweier-Beziehungen – durchaus fluider Identitäten! – gerungen wird, und große, heftig bewegte Gruppenszenen, die teils die volkstümlich-derben, musikantischen Passagen Mahlers gestisch noch überbieten und kommendes Unheil, das bei Mahler ahnend aufscheint, zu dramatischen Ausbrüchen verdichten. Selbst in den musikalisch innigsten, gesanglichsten Momenten betont Schläpfer das Brüchige von Mahlers Idyllen, zeigt Vergeblichkeit und Scheitern und die unheilbare Kluft zwischen Individuum und Masse.
Die neu formierte Kompanie mit zwölf aus Düsseldorf übernommenen Tänzer*innen wirkt nicht unbedingt homogen im konservativen Sinn, aber das will Schläpfer auch augenscheinlich nicht, jedenfalls nicht für seine Kreationen. Auffallend ist aber das durchweg famose technische Niveau und die Eleganz gerade der angestammten Wiener TänzerInnen. Schläpfer hat in einem Interview zu Protokoll gegeben, dass er die Hierarchien „horizontaler denken will“, sprich aufweichen, trotzdem aber auch weiterhin Handlungsballette wie „Giselle“ anbieten will, für die er die alte hierarchische Ordnung braucht. Man darf gespannt sein, ob ihm diese Quadratur des Kreises gelingen wird.
Diese erste eigene Kreation lässt selbst in dem durch den Streaming-Abstand gefilterten Eindruck eine ungeheure Aufbruchs-Spannung spüren, die vibrierende Intensität des Abends fängt die technisch (fast) perfekte Aufzeichnung mit vielen Close-ups und einer durchdachten Bildregie sehr gut ein. Und das, was eigentlich beklemmend ist – die Kameraschwenks über leere Reihen, die schweigenden Verbeugungsrituale ohne Applaus – wirkt sogar verstärkend für einen berührenden, ja aufwühlenden Gesamteindruck.
Hier geht es zum Stream von „Mahler, live“.