Foto: Szene aus der Musikalischen Tragikomödie von Berthold Goldschmidt © Stadttheater Bremerhaven
Text:Jens Fischer, am 23. Juni 2014
Blinde Kuh – so wird das Maskenspiel der Liebe vorgeführt, Bruno und Stella verstecken und suchen sich im Rausch einer angenehmen Illusion: Riesengroß ist die Leidenschaft füreinander, wunderschön finden beide einander – und miteinander verheiratet sind sie auch noch. Das kann doch nicht wahr sein, dass einem so viel Gutes wird beschert – und sich das ganze (Bühnen-)Leben um eine phallische Wendeltreppe dreht, die empor zum Schlafzimmer führt? Zweifelnd gestaltet Bühnenbildnerin Christiane Reikow das Wohnzimmer der Liebe als leere, weiß glühende Designerhöhle. Eine Ehehölle? Oder Brunos Psychiatrie-Zelle, Tür zu und alle Freiheiten offen für seine Wahnvorstellungen?
Unter Klangwolken idyllischer Putzigkeit stellen die Protagonisten in Berthold Goldschmidts Oper „Der gewaltige Hahnrei“ die Mimik immer stummfilmgreller aus. Denn ein erster Störfaktor erscheint, der Ochsenhirt in waldschartigem Outfit und mackererotisch übergeworfenem Eisbärfell. Ein paar Avancen später übersetzt Stella ihre Erregung in lustiges Trippeltanzen, Augenverdrehen, Armezappeln. Auf der Bühne wächst die Aufregung weiter beim Auftauchen eines Jugendfreundes, den Regisseur Hinrich Horstkotte als Graf Dracula einführt. Bruno präsentiert ihm stolz seine Stella wie ein schmuckes Innenarchitektur-Accessoire, sie gibt brav die Blondine, gehorcht auch dem Befehl: „Zeig ihm deine Brust.“ Dann wird losgestiert. Dissonant verwirrte Akkorde verkünden Entfremdung. Rasend beschleunigen sich Tonfolgen, es wird getrillert und perkussiv gewirbelt. Scheppern, Schreie, Faustschlag, umstürzende Darsteller. Nicht die einzige Kippsituation des Werkes.
Völlig unvermittelt explodiert in diesem Fall die Angst, das Eheglück werde nicht von Dauer sein. Ein Königreich für die Eifersucht. Befeuert von Ostinati aller Art. Treue oder nicht Treue, das ist die einzige noch relevante Frage. Schwarz und Weiß sind die Farben des radikalen Entweder-Oders. Bruno trägt schwarzes Hahnentrittmuster auf weißem Grund, Stella ein schwarzes Kleid mit weißen Punkten. Da die Kostüme auf die Entstehungszeit der Oper verweisen, kann auch der Zeitgeist mitgedacht werden: In den 1920/30er Jahren bröselten die Gewissheiten, Vertrauen in die Welt ging verloren, Realitäten wurden brutal absurd, da opfert man halt mal Verstand und Vernunft der Sicherheit. Auch wenn es so albern klingt wie bei Bruno: „Damit ich an deiner Treue nicht mehr zweifeln kann, will ich deiner Untreue gewiss sein.“ Lieber den Hahnrei auch noch spielen, als in Ungewissheit leben.
So nötigt er dem Hausfreund seine Gattin auf. Ab ins Bett – und schamvoll wieder weg schleicht er sich. Stella hockt derweil wie ein Missbrauchsopfer auf dem Gattenschoß. Die sexuelle Interaktion, die aus dem Orchestergraben zu hören ist, muss realiter spaßfrei gewesen sein. Erste Risse zeigen sich in den Bühnenbildwänden, es sollen noch mehr werden. Ehe – die übliche Sadomaso-Geschichte? Horstkotte betont die Tragikomik. Komisch ist Brunos Eifersuchtsexzess, schließlich dem gesamten Dorf seine Frau anzubieten, das Eheschlafzimmer zum Bordell zu erklären. Die Männer stehen Schlange auf der Wendeltreppe. Tragisch die Folgen für Stella, ebenfalls eine Psychopathin: „Aus Liebe“ in blinder Unterwerfung opfert sie sich dem Fremdgehstress und schleppt sich wie eine ausgebeutete Sexarbeiterin über die Bühne. Die Punkte auf ihrem Kleid sind inzwischen Löcher. Nachdem Bruno sie in Harlekin-Verkleidung des Gehörnten noch mal höhnisch verführt hat, hängen nur noch Stofffetzen um ihren Körper. Bei Goldschmidt darf sie nun mit dem Ochsenhirten flüchten, in Bremerhaven wird sie vom Frauenchor fast gelyncht, dann von Bruno erschossen. Mann tötet was Mann liebt – und erntet Chaos. Die ganze Dorfgesellschaft ist durch Öffnung der Zweierbeziehungen ruiniert. Lächerlich, traurig, absurd. Und zwischen kühler Stilisierung, psychologisch durchdachtem Kammerspiel und temporeicher Typenkomödie klug balancierend inszeniert. Stadttheater vom Feinsten. Eine Oper zum Wiederentdecken?
Goldschmidt war Jude und den Nazis zu modern, drei Jahre nach der „Hahnrei“-Uraufführung (1932 in Mannheim) musste er nach England emigrieren. Nach dem Krieg kamen die seriell arbeitenden Neue-Musik-Mathematiker in Mode. Wie Goldschmidt die spätromantische Klangsprache seines Lehrer Franz Schreker aufbrach, weiterentwickelte und mit zeitgenössischem Pop-Material verschnitt, galt als konservativ. Erst 1994 sorgte Harry Kupfer an der Komischen Oper Berlin für die 2. Aufführung des Werkes. Relativ folgenlos. Das wollte Generalmusikdirektor Stephan Tetzlaff ändern. Für ihn ist es die letzte Produktion in Bremerhaven. Das Orchester hatte sich gegen seine Vertragsverlängerung ausgesprochen. Aber für Goldschmidt suchen sie scharf akzentuierend, geradezu aggressiv die schrille Expression. Sehr überzeugend. Wobei nur die feinen Abstimmungen mit den Sängern auf der Strecke beleiben.
Dagegen wehren sich Stella Katja Bördner (Stella) mit dunkel-dramatischem Sopranstrahlen und Tobias Haaks (Bruno) mit heldentenoraler Kraft. Es triumphiert aber vor allem die farbenprächtig opulente, mit emotionalisierenden Melodien feuerwerkende, rhythmisch prägnante, unverbraucht schwungvolle Interpretation der Partitur, die höchst vital den nervösen Gestus der grotesken Handlung widerspiegelt. Bremerhaven liefert ein wirkungsvolles Argument, dieses Werk eines profunden Musiktheaterpraktikers ins Opernrepertoire aufzunehmen.