Es handelt sich um ein tanztechnisch wendiges Sextett, das im Pulk verschwörerisch und gern via eindringlichen Blicken Kontakt zu den Zuschauern aufnimmt. Dazu rauscht Charles Avisons Scarlatti-Bearbeitung des Concerto Nr. 3 in d-Moll durch den nebelgeschwängerten Raum. Allmählich werden im Hintergrund auf Stangen montierte Torsos von Frauen und Männern sichtbar. Eine originelle Idee, diese zu choreographischen Requisiten umfunktionierten Kleiderpuppen.
Träume entführen uns in rätselhaft-packende Welten. Ein dem Unterbewusstsein entrissenes Universum aus Gedankenfetzen und Phantasmagorien. Diese inhaltlich mit realistischen Maßstäben zu begreifen, bleibt hier meist ein Ding der Unmöglichkeit. Was passiert nun, wenn sich zwei Choreographen des probaten Vehikels Traum bedienen, um sich tänzerisch und zeitgenössisch-dynamisch an das komplexe Werk von William Shakespeare zu wagen? Ihr Fokus zielt dabei nicht auf die allgemein bekannten Storyboards des englischen Dramatikers, vielmehr haben Sie die Quintessenz seiner dramatischen und dichterischen Arbeiten im Visier.
Nach der überzeugenden Premiere im Regensburger Velodrom, bei der sich das zehnköpfige Ballettensemble in Topform und ausgesprochen engagiert präsentierte, lautet die Antwort auf obige Frage: In Glücksfällen wie diesem ergibt sich ein stimmiger, keine Sekunde langweiliger Cocktail aus Shakespeare-Konzentrat – also ein Tanzabend, der Eindruck macht. Und das, obwohl kein leicht oder eindeutig zu verstehender bzw. bestimmten Geschichten zuzuordnender Stoff geboten wird.
Klar erkenntlich ist aber, dass hinter dem findigen Schrittmaterial beider Choreographien (wie im Programmheft beschrieben) konkret Fassbares steht. Zu Anfang – in Yuki Moris „Allegoria“ – die gesamte, durch Intrigen, Liebe, Begehren, Manipulation, Täuschung oder Machtfragen konditionierte Gefühlspalette Shakespearescher Charaktere. „Human“ von Alessio Burani zitiert anschließend das von Shakespeare im 20. Sonett beschriebene Gender-Phänomen und beschäftigt sich mit Geschlechterindifferenz.
Als thematischer Aufhänger dient Burani die Praxis des elisabethanischen Theaters, Frauen von jungen Burschen spielen zu lassen. Seinen historischen Zugang unterstreicht musikalisch Henry Purcell, auf dessen „When I am laid in Earth“ (aus „Dido und Aeneas“) Einspielungen von Julia Kent, Armand Amar, Ezio Bosso, Abel Korzeniowski und Field Rotation folgen. Offenbar in enger Abstimmung bei der Musikauswahl mit seinem Chef Mori zeichnete der aus Arezzo/Italien stammende Tänzer (der 2012 mit Mori nach Regensburg kam) damit erstmals für ein Repertoirestück seiner Compagnie verantwortlich.
Zu Beginn hält Burani ein Mädchen unter einem weißen Tuch verborgen. Als sich Lucas Roche Machado – die Augen fest auf die junge Frau gerichtet – aus den ersten Zuschauerreihen aufmacht, die Bühne hochzukraxeln, und kurz darauf die Tänzerin mitsamt von der Decke wallendem Stoff umarmt, muss man unwillkürlich an Romeo und Julia denken.
Glimmende Glühbirnen suggerieren einen funkelnden Sternenhimmel. Später verteilt sich ein Quartett aus zwei Frauen und zwei Männern auf Korridore aus durchscheinenden Gardinen, die zur Projektionsfläche für Intimitäten werden. Man sieht Gesichter, Füße, die sich an Rücken reiben, massierende Hände usw. Ihr letztes Solo tanzt Simone Elliott, die immer wieder in gruppendynamische Sequenzen eintaucht, ganz im Stil von Pina Bausch mit ausgebreiteten Armen im Regen.
Gender hin oder her – „Human“ überzeugt vor allem aufgrund seiner starken, imaginären, handwerklich für neun Interpreten gut strukturierten Ästhetik. Je ein exponiert agierendes Paar beherrscht den Verlauf beider Werke. Bei Mori sind dies Simone Elliott und Alessio Burani. Nur sie beide tragen rot. Über zwei seitliche Türen arbeiten sie sich an die Rampe vor. Man hört sie zuerst noch atmen, brabbeln, glucksen. Unverständliche Relikte, die wohl auf Shakespeares wortgewaltigen Sprachfundus verweisen sollen. Mit jedem Soundwechsel (Musik: Julia Kent, Max Richter, Ezio Bosso) kommen sie sich körperlich näher. In unterschiedlichsten Beziehungskonstellationen wird sich umworben, verführt, betrauert oder bekämpft. Rund um ihre nuancenreichen Duette sorgen Gruppenszenen für räumlich interessante und inhaltlich passende Spannungsfelder.
„Shakespeare Dreams“, die Produktion, mit der Yuki Mori seine fünfte Spielzeit als Ballettchef am Theater Regensburg eröffnet, gibt sich in Monika Frenz‘ reduziert-traumhafter Ausstattung für den Doppelabend gefällig – und kommt zugleich geheimnisvoll-mehrdeutig, ja mysteriös-doppeldeutig daher. Spiegelfolien an der Rückwand verzerren das Seherlebnis. Offen ausgetanzte Gesten beflügeln Assoziationen, weniger augenfällige, im Schutz von Dunkelheit, Ensemble oder hinter luftigen Gardinen ausgeführte Bewegungen stimulieren die Phantasie. Nach gut eineinhalb Stunden inklusive einer Pause reagiert das Publikum im fast ausverkauften Haus hellauf begeistert. Zurecht.