Foto: Szene mit Oliver Fobe, Alen Hodzovic, Caroline Kiesewetter, Antje Eckermann, Ansgar Schäfer aus der UA "Der Tunnel" am Stadttheater Fürth © Thomas Langer
Text:Dieter Stoll, am 18. Oktober 2015
Die Biografie des Autors konkurriert mit der Abenteuerlichkeit seiner Story: Bernhard Kellermann gilt als der erste Bestseller-Schöpfer des Landes, wurde von freundlichen Kritikern gar zum „deutschen Jules Verne“ hochgestuft und hat mit seiner ausdeutbaren Weltsicht die gegensätzlichsten politischen Lager erfreut. 1879 im fränkischen Fürth geboren und 1951 als Mitbegründer des für Intellektuellen-Umerziehung geschaffenen DDR-Kulturbundes in Potsdam gestorben, hat in seinem 1913 erschienenen, erfolgreichsten Roman „Der Tunnel“ die Fortschrittsgläubigkeit frontal auf Kapitalismuskritik prallen lassen. Ein Totalschaden war es für beide Seiten nicht, denn die Mär vom eisernen Willen, der letztlich jeden Widerstand überwindet, erhob sich nach allen Katastrophen-Querschlägen putzmunter aus den Trümmern. Die wahnwitzige Ingenieurs-Idee, einen 5000-Kilometer-Tunnel von Amerika nach Europa durch den Atlantik zu bauen (mit 180.000 Arbeitern in 15 Jahren), musste nicht wahr werden, um großartig zu sein. Ein Traum also, und das lässt Musicalfreunde allemal aufhorchen. Zumal am Fürther Theater, wo seit Jahren die hierzulande vernachlässigte literarische Spielart dieses Show-Genres gepflegt wird und verlorene Söhne der Stadt ihrem späten Wohlwollen nicht entkommen.
Intendant Werner Müller gab also den Auftrag zum Kellermann-Musical „Der Tunnel“ und setzte zwei bewährte Kräfte mit kommunalem Stallgeruch ans Projekt. Romancier Ewald Arenz und Swing-Bandleader Thilo Wolf, bekennende Fürther mit Hang zum Weltläufigen, hatten schon mit „Petticoat und Schickedance“ (2007) und „Bahn frei!“ (2010) lokalkolorierte Song-Revuen maßgeschneidert, waren nun für den großen nächsten Schritt eines echten Theaterstücks mit Soundantrieb bereit. Arenz schälte aus der zwischen Faszination und Systemkritik wuchernden Geschichte ein übersichtliches Stationen-Drama, das Haltestellen für jeden Aufklärungs-Anlass bietet. Der Pioniergeisterfahrer Mac Allen, Mann aus Eisen und Schrott sowie vermutlich beiläufig Erfinder des Begriffs „Tunnelblick“, der seine maßlose Vision samt ihrer tausendfachen Opfer zum „Menschheitstraum“ verklärt. Umgeben von zwei konkurrierenden Frauen, gelenkt von Investoren und Börsenmaklern, genervt von einem herumgeisternden Coach, dessen Gratis-Zynismen für vorübergehende Ernüchterung im Sendungsbewusstsein sorgen. Ein wenig Mephisto, ein wenig mehr noch „Cabaret“-Conferencier steckt in dieser Figur, von Oliver Fobe zum Fixpunkt der Irritation gemacht. „Lieber mehr, lieber mir, denn der Mensch ist ein Tier“, umschreibt er im Kampf-Song mit dem Arenz-Hinweis auf bestens funktionierende Steinzeit-Gene die Gier als Antriebskraft. Er ist die interessanteste Person im Libretto-Sortiment, weil sie ungestraft den Handlungsfaden mit den Assoziationen des Nachschöpfers verknoten kann. Da tun sich die Andern schwerer.
Ewald Arenz schiebt den aufrechten Tunnel-Propheten (Alen Hodzovic mit emphatischer Stimmkraft an sprunghaften Charakterwendungen entlang) durch einen Slalom von Mit- und Gegenspielern. Die liebend einsame Ehefrau daheim (Caroline Kiesewetter im Hascherl-Modus), das Milliardärstöchterchen mit Stalker-Begabung (Antje Eckermann schmettert schulter- und moralfrei „Ich bin nicht an Mittelmaß interessiert“), die mit dem passenden Namen Woolf gesegnete Börsenspekulantin (Bettina Meske singt zähnefletschend), der brummelige Großinvestor Lloyd (Ansgar Schäfer) mit der „Ich kann nicht anders“-Attitüde. Der Weg zwischen Privatleben und Weltgeschichte, Partyplappern und Katastrophe, hin und zurück und auch mal außen rum, ist mit 18 Songs gepflastert. Die Züchtung von Ohrwürmern war dem komponierenden Jazz-Pianisten Thilo Wolf weniger wichtig als der einheitliche Klangteppich, der sich wie geklöppelt unter die Vielfalt der Songnummern schiebt. Für sie greift der Musiker tief in die eigene Erfahrungsschatzkiste, verteilt kantige Rhythmen aus dem Lehrbuch von Foxtrott, Tango, Rap und Rumba. Wolfs Swing-Motorik schnurrt geölt durch den Abend. Die Sänger sind alle stilsicher und hochprofessionell, könnten mühelos in jedem Stück von „Jesus Christ Superstar“ an aufwärts ihren Platz finden. An der Austauschbarkeit der Gesangslinien, an der pauschalisierenden Soul-Sause der elektronisch durchgekneteten Musical-Stimmführung lässt sich offenbar ohnehin nichts mehr ändern.
Regisseurin Jean Renshaw erhebt ein paar Einwände gegen die platte Musical-Rhetorik. Sie hat von Marc Jungreithmeier, der auch für Rimini-Protokoll arbeitet, eine raffinierte Klotz-Installation erschaffen lassen. Auf der Drehbühne die neutralisierte Skyline aus dem vergrößerten Modellbaukasten, die erst per Video-Flutung zum austauschbaren Stadtbild oder zum flammenden Katastrophen-Szenario wird. Ansonsten ist die Ballung von gestaffelten Podesten der schwindelerregende Kletter-Parcours für alle, die da ohne Geländer nach ganz oben streben. Renshaw spielt mit der Metapher der Absturzgefahr, wie sie auch mehrfach Dialogsätze zur Schablone macht, indem sie deren Wiederholungen wie einen Sprung in der Platte zelebriert. Sie sucht erfolgreich die inszenatorische Irritation, wenn die Story samt ihrer systemkritischen Umrankungen allzu glatt läuft und fährt mit trockenem Witz dazwischen, sobald es betulich wird. Am Ende knallt sie dem Zuschauer, der da grade auf wahlweise tragische oder versöhnliche Schlussperspektive eingestimmt ist, einen Blackout vor den Latz. Nein, es gibt keine tröstliche Gewissheit. Dann öffnet sich der Vorhang nochmal und die sechs Akteure haben tänzelnd zur Disco-Entspannung gewechselt. Noch etwas mehr davon hätte die Aufführung zuvor brauchen können. Aber die (lang applaudierenden) Zuschauer bestaunten auch so, wie gescheit Musicals daherreden können.