Holger Falk in der Titelrolle und Hélène Fauchère in „Thomas“

Trauerarbeit

Georg Friedrich Haas: Bluthaus, Thomas

Theater:Bayerische Staatsoper, Premiere:23.05.2022Regie:Claus Guth (Bluthaus), Anna-Sophie Mahler (Thomas)Musikalische Leitung:Titus EngelKomponist(in):Claudio Monteverdi (zusätzliche Musik)

Eine Trilogie von Opern von Georg Friedrich Haas hätte es beim ersten Ja, Mai-Festival des neuen Intendanten Serge Dorny an der Bayerischen Staatsoper werden sollen, doch das Mittelstück „Koma“, inszeniert von Romeo Castellucci mit dem russischen Ensemble MusicAeterna unter Teodor Currentzis, wurde wegen der logistisch-politischen Verwerfungen seit Beginn des Krieges in der Ukraine auf 2024 verschoben. Also gab es ein Doppel mit „Bluthaus“ und „Thomas“ von Georg Friedrich Haas nach Libretti des Schauspielers, Dichters und Filmregisseurs Händl Klaus. Im Zentrum des einen steht die junge Frau Nadja, die ihre Vergangenheit – Missbrauch durch den Vater in der Jugend – einholt; Titelfigur des anderen ist ein Mann, der den Tod seines Geliebten nicht akzeptieren kann: zweimal physisch-psychisch starker Tobak ist dies, aber mit ganz unterschiedlichen dramaturgischen, dichterischen und musikalischen Mitteln erzählt, zudem in ganz unterschiedlichen Theaterräumen zu erleben. „Bluthaus“ wird im kleinen Barock-Juwel des Cuvilliés-Theaters in der Residenz aufgeführt, „Thomas“ in der ehemaligen Reithalle an der Heßstraße, jetzt Utopia genannt; hier ein geschlossener Guckkasten – dort ein offener, nüchterner Raum mit großer Tribüne für das Publikum.

„Bluthaus“ im Cuvilliés-Theater: alptraumhafte Erscheinungen

Etienne Pluss schuf für Claus Guth in der Residenz einen faszinierend variablen Einheitstraum, der in einer Verhörzelle beginnt und endet. Zu rahmender Musik aus Madrigalen Claudio Monteverdis (Finale aus „Il Ballo delle ingrate“ sowie „Lamento della ninfa“) wird Nadja mit einem blutigen Messer in Plastiktüte konfrontiert. Es könnte die Waffe sein, mit der ihr Vater von ihrer Mutter, die sich anschließend selbst tötete, umgebracht wurde. Es mag aber auch bedeuten, dass die Tochter nicht nur Opfer, sondern mögliche Täterin ist. Die Haupthandlung spielt im Elternhaus, das Nadja veräußern möchte: Jede Menge potentielle Käufer (allesamt großartige Schauspieler:innen des benachbarten Münchner Residenztheaters) bevölkern penetrant die verschiedenen Stockwerke (die man sich vorstellen muss) und bedienen sich am Eingemachten im Keller, während Nadja Vater und Mutter immer wieder alptraumhaft erscheinen, bevor ein teuflisches Nachbarspaar den Charakter des „Bluthauses“ offenlegt. Vera-Lotte Boecker singt und spielt Nadja mit enormer Intensität und Virtuosität, die unter die Haut geht und keinerlei Distanz erlaubt. Wie sie während der Besichtigung des Hauses immer wieder von den Geistern ihrer getöteten Eltern heimgesucht wird (Bo Skovhus als latent dämonischer Werner Albrecht im grauen Bademantel; die Mutter Natascha, verkörpert von Nicola Beller Carbone, im grauem Kostüm und Betonfrisur) und daneben der Penetranz der potentiellen Käufer standhalten muss, ist ein heftiger, musikalischer Psychothriller. Guth hat ihn mit seinen Sänger:innen wie Schauspieler:innen perfekt choreographiert bis hin zu drei Tölzer Knaben, die als Klone die Söhne eines Vaters singen. Alle sind im selben Violett gekleidet, während die anderen Käufer:innen jeweils (ebenfalls uni) die restlichen Farben des Regenbogens tragen, Nadja jedoch ganz in Schwarz erscheint (Kostüme: Petra Reinhardt). Das klein besetzte Staatsorchester unter Titus Engel bewältigt die unterschiedlichen Stile für die einzelnen Ebenen der Oper faszinierend; ob lauernde, sich verschiebende Klangflächen wie in einer Passacaglia, gelegentliche Ausbrüche oder ganz leise Verhaltenes!

„Thomas“ im Utopia: im pulsierenden Herz

Im Utopia zwei Tage später dann das Kontrastprogramm: Hier sitzen ein paar Musiker (Zither, Gitarren, Harfe, Mandoline, Akkordeon, Schlagzeug, Cembalo), die oft mit dem Münchener Kammerorchester zusammenspielen, in einer Skulptur, die anfangs das pulsierende Herz des sterbenden Matthias darstellt, während man ihn aus Lautsprechern atmen hört. Später versteinert die Oberfläche oder man sieht darauf in extremer Nahaufnahme die Hand des überlebenden Thomas (Bühne: Katrin Connan): Holger Falk tritt aus dem Publikum die Stufen zur Bühne herab und kehrt am Ende dorthin zurück. Bei Regisseurin Anna-Sophie  Mahler gibt es keinen sichtbar sterbenden Geliebten, auch keine Leiche. Aber ausführlich wird mit geradezu schmerzender Detailgenauigkeit erzählt, wie der tote Körper von Schläuchen befreit, gewaschen und angekleidet wird. Letzteres nimmt „Frau Fink von der Bestattung“ (eine singende Nervensäge erster Güte, die schließlich buchstäblich als Skelett zum Todesengel wird: Hélène Fauchère)  an Thomas selbst vor. Als Matthias (Konstantin Krimmel), Thomas‘ verstorbener Geliebter, wieder lebendig zu werden scheint, Hunger verspürt und das Paar eine Art gemeinsames letztes Abendmahl einnimmt, tragen beide dasselbe schwarze Hemd mit floralem Muster (Kostüme: Pascale Martin). Die Stimmen zweier schöner, charismatischer (Bass-)Baritone, die auch großartige Lied-Sänger sind, scheinen da als Duettierende im fliegenden Wechsel der einzelnen Wörter zu verschmelzen. Doch dann verlässt Matthias seinen Thomas endgültig, während hinter dem geöffneten „Herz“ das Vokalensemble Invocare berückend die Madrigal-Fassung des berühmten „Lamento d’Arianna“  von Claudio Monteverdi singt. Sinnigerweise beginnt es mit „Lasciatemi morire – Lass mich sterben!“

Wieder kontrastiert die Musik des frühen 17. zu der des 21. Jahrhunderts perfekt, nur dass diesmal anderthalb Stunden fast nur irreal gezupfte Klänge und neben dem Mezzo Yajie Zhang und der Sopranistin Jessica Niles als Krankenschwestern gleich zwei Countertenöre zu hören sind. Randal Scotting ist mit warmem Altus der emphatische Krankenpfleger Michael, während Rupert Enticknap einen schneidend gefühllosen Arzt verkörpert. Auch Hagen Matzeit als beflissener Makler in „Bluthaus“ nutzt seine durchdringend hohe Stimme für die Darstellung eines eigentlich höchst zweifelhaften Charakters.