Foto: Annett Segerer und Frank Piotraschke © Theater Wasserburg
Text:Martin Bürkl, am 17. Februar 2017
Über das Theater in Wasserburg heißt es, es sei die Bühne, die mehr Wolfgang-Borchert-Stücke auf dem Spielplan hat, als alle anderen. Pointe: Es sind genau zwei. Zum Ersten das Paradebeispiel der Trümmerliteratur „Draußen vor der Tür“. Dieses hatte erst einen Tag nach Borcherts Tod im Jahr 1947 sein Theater-Debüt. Und zum Zweiten „Käse. Die Komödie des Menschen“, im Alter von 18 Jahren gemeinsam mit dem Schulfreund und späteren Dramaturgen Guenter Mackenthun geschrieben. Die Uraufführung des Stücks, das bis vor wenigen Jahren auch Borchert-Spezialisten nur vom Hörensagen kannten, war hier: 2015 am Theater Wasserburg. Nun hat Regisseur Nik Mayr beide Stücke in einen Abend gepackt und das Personal jeweils auf drei reduziert.
Nik Mayr hat 2016 den Bayrischen Kunstförderpreis erhalten und verwirklicht sich an dem kleinen Haus seit zehn Jahren auch als Schauspieler, Bühnenbildner und Techniker. Seit 2003 führt Uwe Bertram das zuvor „Belaqua“ genannte Privattheater in der Kleinstadt Wasserburg am Inn – gut 50 Kilometer östlich von München. Und er hat die Wasserburger Theatertage ins Leben gerufen, zu denen sich jährlich die freie Szene versammelt. An dem kleinen Haus arbeiten alle in mehreren Bereichen, die Kombination Tanz/Presse/Verwaltung nur als Beispiel erwähnt. Heraus kommt professionelles und anspruchsvolles Theater, auf das der Vorurteilsstempel „Provinz“ eben sowenig passt, wie „Schullektüre“ auf Borchert – unter anderem belegt durch das Bundesverdienstkreuz für den künstlerischen Leiter des Vierspartenhauses.
KÄSE. DIE KOMÖDIE DES MENSCHEN
Mit „Nach dem Krieg ist vor dem Krieg“ ist der doppelte Borchert-Abend überschrieben. Er beginnt mit dem in der Zwischenkriegszeit entstandenen „Käse. Die Komödie des Menschen“: ein verworrenes Stück zwischen Kammerspiel, Dada, Musical, Slapstick und Science-Fiction. Es ist zugleich politisch kritisch und infantil – und für damalige Verhältnisse beinahe übersexualisiert. Der Text ist kaum öffentlich zugänglich. 2007 wurde er als Privatdruck der Internationalen Wolfgang-Borchert-Gesellschaft veröffentlicht, dort kann der Band „Jugenddramen“ bestellt werden. Würde man Käse wie im Skript aufführen wollen, gäbe es 27 Rollen zuzüglich Statisten zu besetzen, man müsste Fernrohre, Kanonen, Paläste und Roboter bauen. Borchert und Co-Autor Guenter Mackenthun waren belesen, kulturell interessiert und große Jazz-Fans: Das Stück ist voll mit Gesangseinlagen und plötzlichen Auftritten von Goethe, Napoléon, Nofretete und anderen. Die Kritik an den Nationalsozialisten ist allgegenwärtig, auch wenn niemand als Person auftritt oder genannt wird.
Die Handlung lässt sich knapp zusammenfassen: Ambrosius Meier kommt aus dem Kleinbürgertum und schwingt sich als Käsefabrikant zum Herrscher eines echten Imperiums auf. Er will die Menschheit unterwerfen, sein Käsegeruch soll die ganze Welt wie ein Betäubungsgas unterjochen. Er begegnet einem Erfinder, der ihm willfährige Roboter und eine Rakete baut, mit der er schließlich zum Mars aufbricht. Dort beschließt er die Sonne mit einer Kanone auszulöschen, damit sich das gesamte Sonnensystem nurmehr um ihn auf dem Mars drehe. Sein Widersacher ist anfangs sehr zögerlich, später entschlossener: der Dichter und Außenseiter Wolff Guenter, kurz „WoGü“, eine Zusammenziehung der beiden Vornamen von Borchert und Mackenthun. Weitere Rollen sind Maler, Aktmodel, Nackttänzerin, Frau, Kinder, Verwandte und viele mehr.
Nik Mayr nennt seine Bearbeitung „KAESE.remixed“ und hat kein einziges Fremdmaterial eingefügt. Es wurde gestrichen, umgestellt und Rollen zusammengelegt, bis nurmehr drei Personen auf der Bühne übrig waren: Hilmar Henjes als herrlich verrückter Käsehändler Meier, Frank Piotraschke als WoGü und in weiteren Männerrollen, Annett Segerer als Aktmodel/Nackttänzerin/Roboterin und in weiteren Frauenrollen. Alles was sich nicht aufteilen ließ, viel entweder weg oder wanderte in eine neue, übergeordnete Computerstimme. Die Bühne (verantwortlich: Mayr und Segerer) ist streng dreigeteilt: Links und rechts ein Redner- bzw. DJ-Pult, in der Mitte ein Gesangsmikrofon und über allem ein großes, rot aufleuchtendes Auge, das an HAL in Kubricks 2001 erinnert. Überhaupt ist das ein Science-Fiction-Setting, beginnend mit verhallt gesprochenem Intro zu Weltraumbildern und Sounddesign.
Gespielt wird nach einer strengen Choreographie. Die Herren in grauer Stoffhose, rotem Hemd und schwarzer Krawatte wären mit Seitenscheitel exakte „Kraftwerk“-Kopien, doch dafür hat Henjes zu wilde Haare und Piotraschke zu wenig, nämlich eine Glatze. Segerer steckt in einem engen, schwarzen Ganzkörperdress mit Kapuze, Lederstiefeln und orange leuchtender Kette. Borcherts Songs werden zu einfachen, elektronischen Beats performt – mit zackigen, aber bewusst schlampig ausgeführten Bewegungen, wie zum Beispiel im „Tanz der Roboter“: „Tak, tak, tak. Wir sind die neue Zeit,/ aus Blech und Lack und voller Blödigkeit. (…) Schnell wie jede Mode/ sind wir auch bald marode/ und sinken ab/ ins Massengrab. (…) Tak, tak, tak. Unser Herr ist das Geld./ Tak, tak, tak. Und der Käse unser Mark./ Tak, tak, tak. Wir vernichten die Welt!/ Wir dienen dem Käse, darum sind wir stark!“
„KAESE.remixed“ ist bewusst trashig. Eine laute, knallige Performance, wie man sie von Kollektiven in einer Großstadt erwarten könnte: Alles hat den Anstrich von Pop und gescheitertem Glam(our). Eine Nazi-Parodie ohne jeden Nazi-Anklang. Wer den Hamburger Künstler Heinz Strunk mit „Studio Braun“ bzw. „Fraktus“ kennt, hat in etwa eine Ahnung. Pause.
DRAUSSEN VOR DER TÜR
Nach dem zweiten Weltkrieg sah für Wolfgang Borchert alles anders aus, er war mehrmals an der Front, wegen „Wehrkraftzersetzung“ in Haft und ernstlich krank. Für Witz blieb kein Raum mehr. Nik Mayrs Bühne ist erneut streng dreigeteilt. Das Einzige, was nach dem Krieg noch intakt ist, ist die Gosse – und so stehen auf drei kleinen Podesten drei einfache Klohäuschen, wie in alten Badeanstalten: Unten offen und oben sieht man noch ein bisschen den Kopf. Jedes Häuschen ist besetzt. Es dröhnt „Heimatlos und Spaß dabei“ aus den Lautsprechern, ein wüst stampfender Elektro-Punk-Song von Frittenbude. Dieser synthetische Beat mit düsterer Grundstimmung geht in eine Endlosschleife über, die in der kommenden Stunde immer wieder dumpf und entfernt dröhnt; eben wie VOR einem Club, in dem das Nachtleben spielt.
Im linken Häuschen erbricht sich eine Frau (zuerst Annett Segerer, bald Ann-Sophie Ludwig) in der Mitte pinkelt der Kriegsheimkehrer Beckmann im Stehen (Frank Piotraschke) und rechts sitzt ein augenscheinlich stark Betrunkener (Hilmar Henjes) auf dem Abort und lamentiert: „Wir brauchen wieder eine Jugend, die zu aktuellen Problemen aktiv Stellung nimmt. […] „Die die Wahrheit hochhält, Pläne hat, Ideen hat.“ Bei Borchert kommt der Kabarettdirektor erst später, hier fungiert er wie ein kleiner Prolog. Die Reduktion des Personals von über 16 auf drei funktioniert wunderbar! Henjes, zuvor noch in der Dagobert-Duck-artigen Rolle des Käse-Meiers, spielt wie ein betrunkener, altkluger Obdachloser, der alles kommentieren muss. Ann-Sophie Ludwig ist die Elbe, ist der Oberst, der „unsere gute deutsche Wahrheit“ einfordert und viele andere. Piotraschkes Beckmann hat alles: Totale Liebe und totale Verzweiflung, seltsame Verrücktheit und absolut trockene Distanz. Wie er den Mann mit der posttraumatischen Belastungsstörung spielt, wie er in der offenen Klokabine hängt, entspannt eingeklemmt mit dem Hintern in der Kloschüssel, die Beine an der Wand – das ist schier großartig. Auch Henjes und Ludwig spielen toll, alles läuft wie geschmiert, die Anschlüsse stimmen, der Flow, der Sprechrhythmus mit dem zugespielten Disko-Gewummer… Und alle bleiben fast immer in ihrer Welt, im Klohäuschen oder davor, auf dem leicht erhöhten Podest. Nur zum verzweifelten Sex wird sich mal in die linke Kabine begeben. Jeder bleibt einsam.
FAZIT
„Nach dem Krieg ist vor dem Krieg“ ist auf vielen Ebenen eine sehr widersprüchliche Kombination. Dass „Draußen vor der Tür“ das weitaus schlüssigere und zu recht gefeierte Stück Borcherts ist, steht außer Frage. Rolf Michaelis schrieb 2002 über Borchert in der „Zeit“: „Den widerborstigen Schlacks kriegen und kriegen die Literaturwissenschaftler nicht – wie Dürrenmatt gesagt hätte – in eines ihrer Einmachgläser.“ Ich als Theaterkritiker auch nicht. Vielleicht hätte es doch geholfen, „Käse“ so nah am Text wie möglich zu inszenieren. Denn jetzt bekommt niemand ein Gefühl dafür, was Borchert und Mackenthun gemeinsam geschrieben haben. KAESE.remixed malt mit grellen Farben und übermalt damit den Text. Postdramatische Mittel, Pop und Trash bei einem unbekannten Stück anzuwenden, ist wie eine Freejazz-Dekonstruktion eines unbekannten Songs, sie wird nicht funktionieren. Selbst das Überprüfen im Nachhinein gestaltet sich für interessierte Theaterbesucher schwierig, weil „Käse“ in keiner Bibliothek vorhanden und nicht über den Buchhandel zu beziehen ist. Das Stück wäre es wert.