Foto: Der Flughafen als Tor zur Transzendenz: André Jung als Johannes (vorn links am Schalter) in Jossi Wielers und Sergio Morabitos Inszenierung von Mark Andres neuer Oper "wunderzaichen". © A. T. Schaefer
Text:Detlef Brandenburg, am 3. März 2014
Wenn sich an der Oper Stuttgart der Vorhang zur Uraufführung von Mark Andres Oper „wunderzaichen“ erhebt, sehen wir einen Ort, an dem man alles mögliche erwartet, nur keine Wunderzeichen. Wir sehen einen Flugplatz, den die Bühnenbildnerin Anna Viebrock gar nicht so sehr verfremdet hat. Diese Bühnenbildnerin hat ja ein einmaliges Talent, ihren Räumen durch die Kombination realistischer Teilsegemente etwas fast mystisch Schwebendes zu geben. Das tut sie auch hier. Aber bei all den Abfertigungsschaltern, Wartesitzreihen und der Fastfood-Cleanheit ist man kaum im Zweifel, wo wir sind. Hebräische Schriftzeichen und die Vertreter aller möglichen jüdischen und christlichen Religionen unter den Touristen erlauben sogar eine gewisse geographische Zuordnung.
Aber die Scharen, die der Regisseur (und Opernintendant) Jossi Wieler und sein Koregisseur Sergio Morabito mit suggestiver Präzision führen – sie fallen bald aus der Rolle. Plötzlich haben diese Choristen Geigenbögen in den Händen, mit denen sie auf breiten Plastikarmbändern seltsamste Reibegeräusche erzeugen. Dabei verfallen sie in Verzückungsgesten, die in der funktional durchgetakteten Menschenbeförderung zu Frankfurt Airport oder Hamburg-Fuhlsbüttel das Sicherheitspersonal auf den Plan rufen würden. Das taucht auch hier auf – aber es kümmert sich um einen Sonderling, der inmitten der verzückt summenden, hauchenden, atmenden Choristen spricht und sich nicht richtig ausweisen kann. Und über alledem ist da diese wundersame Klangaura, in der der Takt der Beförderungsmechanik in seltsamem Widerstreit liegt mit suggestiv pulsierenden, changierenden, schimmernden Liegeklängen… Ein Flugplatz ist ja bei aller Funktionalität auch ein Zwischenraum, ein Ort des Übergangs. Etwas Ähnliches scheint sich auch hier zu ereignen, nur eben ganz anders.
Was, wenn wir jetzt mal die Perspektive des staunenden Schauens verlassen, auch kein Wunder ist. Denn für die Musik des 1964 in Paris geborenen Mark Andre ist die Kategorie des Zwischenraums von zentraler Bedeutung, und der für das Entstehen des Zwischenraums konstitutive Prozess ist das Verschwinden. Nur sind das Formulierungen, die man doch lieber erst im dritten Absatz einer Opernkritik schreibt und nicht zum Einstieg, weil man sonst Angst hat, dass der Einstieg für den Mozart oder Verdi liebenden Leser gleich wieder zum Ausstieg wird. Dabei stecken bei diesem Klangtüftler und Sensibilisten hinter solchen abstrakten Begriffen ganz konkrete Ereignisse, die wirklich jeder Hörer unmittelbar an sich, geradezu körperhaft, erfahren kann. Der Zwischenraum also: Mark Andre findet ihn beispielsweise im Verschwinden des Tons, im Verklingen, dort, wo der Vorgang der Klangerzeugung schon beendet ist, der Nachhall aber noch im Raum schwebt. Er hat gemeinsam mit dem Toningenieur Joachim Haas am Freiburger Experimentalstudio des SWR ein Verfahren entwickelt, das einem Ton einen Nachhall verleiht, der eigentlich gar nicht zu ihm gehört. Und er hat eigens für „wunderzaichen“ einen ganzen Katalog von solchen Nachhall-Verfremdungen für die in der Opern live erzeugten Töne angelegt. Gemeinsam mit Joachim Haas und dem Dramaturgen Patrick Hahn ist er nach Israel gefahren und hat akustische Eindrücke von allen möglichen biblischen Schauplätzen eingefangen und sie dann im Studio digital zerlegt, spektralisiert, aufgefächert. Einen „metaphysischen Roadtrip“ haben sie diese Reise genannt, und das Programmheft schildert einprägsam eine Nacht in der Grabeskirche in Jerusalem, wo das Team Geräusche erzeugt und deren Widerhall im Raum aufgezeichnet hat. Mark Andre ist überzeugt davon, dass er dadurch auch die geistliche Aura eines Raums, in diesem Fall die spirituelle Energie der sechs christlichen Religionen, die hier ihre Liturgien abhalten, einfangen kann.
Ja, Mark Andre ist ein gläubiger Komponist. In den Zwischenräumen (die auch anders entstehen können, zum Beispiel durch das Versiegen einer musikalischen Entwicklung, das plötzlich Raum schafft für etwas Neues, einen „Durchbruch“) klafft nach seiner Überzeugung eine vertikale Öffnung auf, eine Erfahrungsmöglichkeit des metaphysischen Überbaus der wirklichen Welt. Gott, Mystik, Christentum, das sind für ihn nicht „Themen“, die er „vertont“. Hier ist vielmehr die Struktur selbst der Gehalt. Insofern ist er ein Klangmystiker, der aus den Strukturen des Klangs – seien es verfremdete Instrumentalklänge, Materialklänge, das Rascheln von Silberpapier, das Luftrauschen in einer Windmühle – mit den Mitteln subtilster Analyse und Rekonfiguration den Nachhall der Transzendenz herausfiltert. Es ist ähnlich wie mit Eichendorffs „Zauberwort“, welches das göttliche Lied zum Klingen bringt, das in allen Dingen schlummert: Andres kompositorischer Zauberkasten erweckt für uns die Gotteserfahrung, die in allen Klängen schläft, die da träumen fort und fort.
Nur dass ein solches strukturorientiertes Komponieren nicht zwingend zur Oper drängt. Es war kaum Zufall, dass Sergio Morabito, Chefdramaturg der Oper Stuttgart, Andre mit der Idee zu dieser seiner ersten großen Oper infiziert und ihm den Helden gleich mitgeliefert hat. In der Stuttgarter Leonhardskirche war Morabito 2003 auf die Grabtafel des 1455 in Pforzheim geborenen Humanisten Johannes Reuchlin gestoßen – ein wahrlich ungewöhnlicher Mann! Er beschäftige sich mit der hebräischen Kultur und hier ausgerechnet mit der Kabbala und ihrer Wort- und Beziehungsmystik. Als Morabito wenig später die Musik Mark Andres kennenlernte, kam ihm die Ahnung, dass es eine tragfähige Analogie geben könnte zwischen Andres musikstrukturellem „Zauberkasten“ und Reuchlins kabbalistischer Beziehungsmystik, die beide auf derselben Spur wandeln: der Spur Gottes. Ein erstes Projekt in der Leonhardskirche mit Musik Andres und Texten Reuchlins bestätigte 2007 diesen Verdacht und führte dazu, das der damalige Opernintendant Albrecht Puhlmann Andre den Auftrag für eine große Oper erteilte.
So also kam alles zusammen: Gott, die Musik, das Wort, die Oper, ihr Held und auch ihr Titel, der Reuchlins Schriften entlehnt ist. Und der Flugplatz? Es war offenbar eine Initialszündung sowohl für das von Patrick Hahn und Mark Andre verfasste Libretto wie auch für Jossi Wielers und Sergio Morabitos Inszenierung, dass es auf der Rückkehr des „Roadtrips“ ins Gelobte Land zu einem Zwischenfall auf dem Flughafen Ben Gurion kam. Die Kontrollen sind streng dort, prompt wurde Mark Andre aus der Schlange der Wartenden herausgefischt und befragt, was er denn in Israel gemacht hätte. Woraufhin der Komponist in aller Treuherzigkeit zu Protokoll gab, er habe die Erscheinungsweisen des Heiligen Geistes aufgenommen. Erst nach umständlichen Recherchen und Klärungen konnten sie doch noch ihr Flugzeug besteigen – anders als jener Johannes, der kauzige Sonderling, der zu Beginn der Inszenierung Verwirrung stiftet, weil unklar bleibt, wer er ist: Johannes, der Tourist? Johannes, der Humanist? Der Evangelist? Oder gar Jesus? Er hat ein „fremdes Herz“ in seiner Brust, das ihm vor Jahren ein zweites Leben bescherte, jetzt aber strandet er zwischen den Welten wie einst Reuchlin zwischen den Religionen – er wird den Flugplatz am Ende auf eine ganz andere Weise verlassen als das Filmteam.
Das Libretto ist eher Assoziationsfläche für die Komposition als Kommunikationsebene für die Zuschauer. Sein konzeptionelles Verdienst besteht darin, dass es dem abstrakten Strukturkosmos der Musik Orte und Vorgänge zuordnet. Sieht man die vier Situationen der Oper jetzt auf der Bühne, kann man fast so etwas wie eine Geschichte herauslesen. Anfangs steht Johannes in seinem durablen Altherrenjackett der Masse der ferienbunten Touristen vollkommen fremd gegenüber. Dass er allein auf dieser Bühne spricht, rückt ihn deutliche Distanz zu allen anderen – aber auch zu jener Transzendenz, die in Andres Musik stets mitzuklingen scheint. Da wird durchaus ein dramaturgischer Haarriss in der Tiefenstruktur dieser Oper spürbar: Man fragt sich, ob Reuchlins kabbalistische Exegese der Musik wirklich im Innersten korrespondiert oder nicht doch von außen an sie herangetragen wurde. Das wird noch deutlicher, als Johannes beim Verhör im Polizeirevier auf Maria trifft, die vom anderen Extrem mystischer Erfahrung her aus der Welt gerissen wurde: Sie singt fast ausschließlich in Vokalisen, die unmittelbarer als Johannes’ Sprechen eine transzendente Dimension zum Klingen bringen. Am Ende, wenn Johannes an seiner Zerrissenheit stirbt und wiederaufersteht, ist sie es, die das „Noli me tangere“ ausspricht, mit dem im Johannes-Evangelium genau umgekehrt Maria Magdalena von Jesus zurückgewiesen wird. Leider haben sich Wieler und Morabito an diese Ambivalenz nicht herangetraut, sie zeigen Maria als zottelige, hennarothaarige, fast affenartig über die Bühne turnende Hippiequeen – und desavouieren sie damit.
Den Prozess der Verwandlung allerdings, der sich durch die Anwesenheit dieser beiden Botschafter der Zwischenwelt vollzieht, setzen sie in äußerst suggestiver Vielschichtigkeit um. Wie der Chor hier zum Klang- und Aktionskörper der Musik wird, wie exakt die Protagonisten in dieses Kollektiv integriert werden, und wie profiliert auch aus dem Chor selbst immer wieder Individuen hervortreten, das ist überwältigend; ebenso wie die Bühnenpräsenz, die der Schauspieler André Jung seinem wunderbar gelehrtenkauzigen, verwirrten und verirrten Johannes gibt. Und so entfernt sich das Treiben auf dem Flugplatz immer mehr von den ortsüblichen Usancen, immer tranceartiger werden die Gesten, aus den Polizisten werden Engel an der Schwelle zum Jenseits, bis in der vierten Situation tatsächlich jener Zwischenraum aufbricht, in dem alle Konventionen erlöschen und eine umfassende Transsubstantiation einsetzt. Am Ende aber stehen das „Noli me tangere“ der Maria und das Wort „Ohne Ende“, das auf der metaphysisch unaufhebbaren Trennung zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen beharrt. In den Zwischenräumen wird das Unendliche erfahrbar. Aber dort können wir endlichen Menschen uns nicht ewig aufhalten.
Es ist das große Verdienst dieser Inszenierung, solche Denkräume zu öffnen, ohne sie durch klare Thesen gleich wieder zu verschließen. In dieser Offenheit kommt die maßstabsetzende musikalische Interpretation unter der souveränen Leitung von Sylvain Cambreling hervorragend zur Geltung. Der Apparat ist riesig: Der Chor auf der Bühne und das in allen möglichen Artikulationsarten geforderte Orchester im Graben; die Vokalensembles und Instrumentalisten auf den Rängen; die von Joachim Haas gesteuerte Live-Elektronik, all das klingt wunderbar organisch und vollkommen selbstverständlich. Grandios ist die Leistung von Claudia Barainsky in der äußerst fragilen, extrem undankbaren Partie der Maria und dem wunderbar sensibel agierenden Matthias Klink als Polizist, der zum Erzengel mutiert. Auch die beiden Polizistinnen Kora Pavelic und Maria Theresa Ullrich sind in kleinen Partien enorm präsent. Die Stuttgarter Oper zeigt hier eine überragende Kompetenz für zeitgenössisches Musiktheater. Am Ende langer Beifall für alle Beteiligten.