Foto: Die Kibbutz Contemporary Dance Company mit "Lullaby for Bach" bei den Movimentos Festwochen in Wolfsburg © tammerpohl@winet.de
Text:Bettina Weber, am 3. Mai 2015
Langsam kriechen die Tänzer herunter von einer schwarz-grauen Wand, über den Boden, stehen auf: Es ist der Beginn des Lebens. „Singt dem Kind ein Schlaflied“, dröhnt eine dunkle Stimme, die über den Abend hinweg den gesamten Text eines hebräischen Schlafliedes von Jehude Amichai verkünden wird. „Lullaby for Bach“ heißt die Choreographie des israelischen Choreographen Rami Be’er und der Kibbutz Contemporary Dance Company, die als Auftragsarbeit für Movimentos Festwochen 2015 in Wolfsburg entstanden ist. Das gut 60 Minuten dauernde Stück ist gefüllt mit dutzenden Szenen, die hier abstrakter, dort konkreter Stationen des menschlichen Lebens zeigen. Die kindliche Geborgenheit, der durch Schlaflieder entstehende Schutzraum zieht sich, gemeinsam mit dem impliziten Wunsch nach Frieden, leitmotivisch durch den ganzen Abend.
Johann Sebastian Bachs Stücke funktionieren dabei wie wunderbare Refugien des Guten. Nahezu alle harmonischen Szenen, in denen die Bewegungen zu fließen scheinen und Bachs Kompositionen das Geschehen süß umhüllen, werden allerdings mit bedrohlichen, verstörenden Momenten durchbrochen: Dumpfes, an Hubschrauber erinnerndes Dröhnen, Kriegsgeräusche, Schüsse, Kommandorufe, harte elektronische, zeitgenössische Beats und urplötzlich kantig ausgebremste Drehungen oder unterdrückt gebeugte Körper der Tänzer. Spielerische Momente wie die Verliebtheit eines jungen Paares wechseln mit geduckter, sorgenvoller oder traumverzögerter Zeitlupe. An der rechts auf der Bühne stehenden, verwinkelten Wand kletternd eine Tänzerin entlang, malt mit Kreide Wolfsgesichter und andere Alptraumwesen darauf.
Dass die Company noch im Kibbutz lebt und arbeitet, ist spürbar: In beinahe allen Szenen agiert die gesamte Gruppe, auf der gesamten Bühne verteilt. Es mag zunächst etwas unübersichtlich sein, aber es ist eben ein sehr gemeinschaftliches Werk. Einzelne Tänzer treten für kurze Soli aus dem Ensemble hervor, doch Hierarchen werden nicht deutlich. Rami Be’er möchte seine Werke nicht unbedingt „israelisch“ verstanden wissen, und tatsächlich sind die Lebensstationen, die „Lullaby for Bach“ zeigt, fast universell anwendbar, sowohl was den Ort als auch die Zeit des Geschehens betrifft. Gleichzeitig ermöglicht das Stück aber diese israelische Lesart: Zwischen den Bewegungen schimmert eine Kritik an den Zuständen hervor, wenn die Tänzer wie in der Armee salutieren, so ist der Gedanke an die israelische Wehrpflicht schnell assoziiert. Zudem deuten die Tänzer folkoristische Tänze an, eine Zerrissenheit zwischen Tradition und Moderne symbolisierend.
Gleichzeitig ist die Perspektive in die Geschichte oder die Zukunft, in das Überzeitliche also, jederzeit möglich und mitgedacht: Im letzten Drittel betreten zwei Götter mit weißen Flügeln und Perücken das Geschehen, werden zwar durch ihre affektierten Bewegungen ironisiert, lachen dann aber laut über die anderen. Anschließend stehen die übrigen Tänzer kurzzeitig in bunten historischen Kostümen auf die Bühne, Narren neben Königinnen. Die Menschen, die ihre Fehler Generation für Generation wiederholen, könnten den Göttern ein Anlass zum Lachen sein. Zum Schluss kriechen die Tänzer wieder zurück, kriechend und gebückt. Es ist das Lebensende und der Anfang. Wo die einen gehen, kommen die anderen – das Schlaflied indes bleibt.
Die Vielfältigkeit der Lesarten, die Kontraste zwischen Humor und Angst, zwischen Verspieltheit und Wut, und dazu der dauerpräsente Wunsch nach Frieden schenken der Choreographie eine starke Anziehungskraft, ebenso wie die beeindruckend gemeinschaftlich agierenden 18 Tänzer. Frieden ist auch das Leitthema der diesjährigen Movimentos-Festwochen, und es ist eine besondere Ehre, dass die israelische Tanzgruppe dieses Werk in Deutschland erarbeitet hat. Die verstörenden Momente neben den ausgelassenen Harmonien erzeugen eine Spannung, die das Publikum im alten Wolfsburger Kraftwerk auch an diesem vierten Aufführungsabend, der wie die vorigen bis auf wenige Plätze ausverkauft war, mit langem Applaus und stehenden Ovationen würdigte.