Auch Georg Friedrich Händel war noch jung, wenn auch bereits ein erfolgreicher Komponist, als er 21-jährig zu seiner vierjährigen Italienreise aufbrach. Als er 1706 in Rom eintrifft, ist er als Komponist und Tastenvirtuose schnell die Sensation der Stadt. Nur eines darf er hier nicht vorführen: seine Opern. Denn Oper hatte der Papst bereits 1698, erschüttert durch die Heimsuchung eines Erdbebens, als sündige Luxusgattung verboten. Also schrieben die Komponisten in Rom weltliche Kantaten – so auch Händel, aber mit aller Dramenpower, die seine Opern auszeichnet. Seine „Lucrezia“ entwirft geradezu eine dramatische Fieberkurve in Echtzeit: Hin- und hergerissen zwischen Schuld- und Rachegefühlen, im atemberaubenden Wechsel zwischen Rezitativ und Arie, rast die vergewaltigte Tugendheldin auf ihren Selbstmord zu, den sie zum Fanal ihrer Unschuld macht.
Dass man diese beiden faszinierenden Werke in Darmstadt erleben durfte, mit kleineren Um-Arrangements zur Herstellung eines dramatischen Gleichgewichts und Gesamtzusammenhangs, war der größte Gewinn dieses Abends. Daniel Cohen hat dem Staatsorchester Darmstadt zwei völlig unterschiedliche Klangbilder abgewonnen. Die kleine Händel-Besetzung mit Cembalo und Theorbe als Continuo-Instrumenten und einem Mini-Orchester war vor der Bühne postiert und klang historisch ausgesprochen gut informiert: leicht, filigran, flexibel, mit elastischer Akzentuierung. Hier, in der „Lucrezia“, wurde Lena Sutor-Wernich zum Star des Abends: mit einem wunderbar bronze-warmen Mezzo, metallisch stabil in der Tiefe, leuchtend in der Höhe, schlank und nuancenreich in Stimmführung und Timbre. Es war eine Freude, ihr zuzuhören! Aber auch das kleine „Faust et Hélène“-Ensemble war richtig gut, mit dem weich strahlenden, elegant geführten Tenor-Faust von David Lee, dem hochkultvierten Bariton-Méphistophélès von Julian Orlishausen und der dramatisch strahlenden Mezzo-Hélène von Solgerd Isalv. Nun klang das auf der geräumigen Hinterbühne verteilte Orchester, als habe Richard Wagner bei Claude Debussy nochmal ein paar Stunden Instrumentationskunde genommen. Und damit auch wieder genau passend zum Werk. Toll!
Händels „Lucrezia“ hat hier sogar eine Ouvertüre – von Henry Purcell. Die Regisseurin Mariame Clément und ihr Co-Regisseur Marcos Darbyshire nutzen sie für ein stummes Vorspiel in einem Badezimmer von heute, in das sich eine moderne junge Frau flüchtet, sich in die Toilette erbricht, hinter dem Duschvorhang verschwindet, und es ist sofort klar: Hier hat die #MeToo-Debatte eine Aktualisierungsidee entzündet. Vor der ersten Aria informiert uns ein Schriftzug im Stream, dass drei Stunden vergangen seien. Lucrezia trägt nun saloppe Alltagsklamotten und hat ein Dokument mit Bundesadler in der Hand – sie war womöglich bei der Polizei, hat aber offenbar nichts ausgerichtet, denn sie klagt, dass der „Verräter ihrer Ehre“ noch stolz auf seine Missetaten sei. Drei Wochen später zweifelt sie an der moralischen Weltordnung, drei Monate später ist sie suizidgefährdet. Im Zoom-Nachgespräch waren Sängerin und Regisseurin der Meinung, dass diese narrative Dehnung die Figur psychisch plausibler mache. Aber Händels hochverdichtete Musik weiß von dieser anekdotisch ausgebreiteten Geschichte leider so gar nichts – schade.
Das Thema der toxischen Männlichkeit aber ist gesetzt – und wird nach dieser Badezimmer-realistischen Episode in der „Faust et Hélène“-Kantate auf überraschend andere Weise, nämlich in Form einer metaphorisch-artifiziellen Varietee-Show mit Méphistophélès als Bühnenmagier, abgehandelt. Dessen Haupt-Showact ist thematisch zielführenderweise die „Zersägte Jungfrau“. Als solche fungiert Lucrezia, die vage mit Fausts Gretchen assoziiert wird und – ob nun von ihrem Liebhaber Faust oder von ihrem Vergewaltiger Sextus Tarquinius, sei dahingestellt – ein Baby zu bemuttern hat. Wenn Helena erscheint, himmelt Faust statt ihrer zunächst eine Schaufensterpuppe an, die er erst aufs Kreuz und dann in ihre Glieder zerlegt – aha: die Frau als Objekt! Aber da ergeht sich die Regie dann doch im thematisch allzu Naheliegenden und handlungslogisch allzu Spekulativen.
Die Stream-Bildregie von Fabio Stoll bringt dem Zuschauer all das sehr zweckdienlich nahe. Sie spielt sich nicht durch zu viel Schnitttechnik in den Vordergrund, sondern gibt dem Auge die Möglichkeit, die Szenerie zu erkunden. Das ist wohltuend.