Foto: Kalt ist die Welt. Mercedes Acuri und Yoonki Baek in Rachmaninows "Francesca da Rimini" © Olaf Struck
Text:Christian Strehk, am 29. April 2018
Valentina Carrasco, bekannt durch ihre Arbeit für La Fura dels Baus, verschränkt Rachmaninows selten gespielte Operneinakter in Kiel zu einem außergewöhnlichen Opernabend
Einakter haben’s schwer. Für einen vollgültigen Opernabend meist zu knapp bemessen, stellt sich die schwierige Frage nach stimmiger Kombination – der „Bajazzo“-Effekt. Im Kieler Opernhaus aber ist diesbezüglich ein Theater-Coup gelungen. Und das ausgerechnet mit zwei einaktigen Raritäten von einem Komponisten, den man als Pianisten und als Sinfoniker hoch schätzt, aber mit der Bühne kaum in Verbindung bringt: Sergej Rachmaninow.
Valentina Carrasco, Regisseurin aus dem Zirkel der katalanischen Performance-Gruppe La Fura dels Baus, und Kiels Stellvertretender Generalmusikdirektor Daniel Carlberg kombinieren das studentische Frühwerk „Aleko“ (uraufgeführt 1893 in Moskau) und die spürbar reifere „Francesca da Rimini“ (UA 1906 ebenfalls am Bolschoi) nicht nur, sie verschränken sie sehr geschickt.
Dantes höllisches Inferno hatte Rachmaninow als Prolog und Epilog für das doppelt tödliche Eifersuchtsdrama um die spröde Francesca gewählt: Hier verbüßen die ehebrüchige Schöne, ihr mordender Gatte Lanciotto und ausgerechnet sein Bruder Paolo als erstochener Nebenbuhler ihre Schuld – „Menschen, die den Verstand der Liebesleidenschaft unterwarfen“.
In der Hölle werden Dante (Fred Hoffmann) und „Der Schatten von Vergil“ (Matteo Maria Ferretti) personifiziert mit dem Vocalisen-Geheul der verdammten Seelen konfrontiert; Seelen, die das größtmögliche Leid erleiden, da sie sich „im Unglück an vergangenes Glück“ erinnern. Hier komponiert Rachmaninow ganz nah am Abgrund des spätromantisch Möglichen, verschiebt verminderte Akkorde ins tonale Nirgendwo, jongliert gekonnt mit fahlen Orchesterfarben, verweigert in langen Steigerungswellen das Zeit- und Taktgefühl. Daniel Carlberg sucht und findet mit den Philharmonikern die Extreme zwischen kargem Knirschen und brennender Intensität – gern mutig an der Schmerzgrenze des Spielbaren.
Die Inszenierung Carrascos agiert mit sehr professionell überblendeten Video-Sequenzen, die eine naturromantisch frei schwebende Möwe zu Rachmaninows quälend langsam heranraunendem Prolog fliegen lässt, die dann aber – fies weitet sich der Fokus – die Zivilisationshölle von sehr heutigen Müllbergen durchstöbert.
Das Bühnenbild von Andrea Miglio und die Kostüme von Barbara del Piano werden die beklemmende Müll-Metapher immer wieder aufgreifen. Im Abfall waten die gesichtslosen Lemuren der Unterwelt, aus zumindest schick zum Leuchten gebrachten PET-Flaschenwänden wird später der Palast in Rimini erbaut sein und aus Plastiksäcken schälen sich nach dem Prolog auch die an den stinkenden Rand der Zivilisation verbannten „Zigeuner“, bei denen Aleko seine Frau Semfira und Zuflucht gefunden hat.
Weil die affektmörderische Dreieckshandlung im Kern und in der Stimmfach- und Figurenkonstellation vollkommen identisch ist, die Zigeuner bewegend würdig urteilen und in der maximal präzisen und musikalisch feinfühligen Personenregie bewegt werden, ist das „Aleko“-Implantat gleich nach dem „Francesca“-Prolog ein echter Gewinn. Es spielt keine Rolle, dass die Musik um Grade konventioneller tönt und letztlich nicht wesentlich über die „Eugen Onegin“-Tradition hinausweist.
Carrasco zeichnet die Tat Alekos/Lanciottos spannungsvoll als Endlosschleife, als stets drohenden toxischen Abfall der Liebesleidenschaft, zu jeder Zeit wahrscheinlich. In Pantomimen eines genau getimten Bewegungschors werden auch die Tanzmusik-Sequenzen in „Aleko“ als erotisch aufgeladene, aber ins Gewalttätige kippende Anziehungs- und Abstoßungsreaktionen zwischen den Geschlechtern auschoreographiert.
Carlberg kann auf einen bestens von Lam Tran Dinh einstudierten Opern- und Extrachor zählen, der die Höllenlaute in den Rahmenteilen genauso stimmig von sich gibt wie die russisch-orthodox orgelnden Farben in „Aleko“.
Die Titelpartien sind mit Jörg Sabrowski und Mercedes Acuri sehr gut besetzt. Der deutsche Bassbariton lässt das originalsprachliche Espressivo immer wieder ins expressionistisch Aggressive lappen. Die argentinische Sopranistin dosiert das blendende Auflodern der lyrischen Stimme von der Ehepflicht-Sparflamme zum Liebeswahn sehr genau. Der koreanische Tenor Yoonki Baek bietet dafür als „junger Zigeuner“ und Paolo eine frisch verlockende Projektionsfläche und Timo Riihonen erinnert mit opulenter finnischer Bassgewalt als Semfiras Vater zudem an die zugrundeliegende osteuropäische Stimmtradition.
Das gesamte Team erntet für die restlos gelungene Einakter-Fusion großen Premierenjubel.