Doch auch wenn emotionale und soziale Grundkonflikte bleiben – die Angst des Einzelnen zu scheitern oder die Unbilden gesellschaftlicher Strukturen, bis zwei Liebende sich endlich kriegen – so ist klar: Die Welt ist eine andere geworden, mit ihr unsere Sprache und die Formen des Ausfechtens gesellschaftlicher Diskurse.
Alte Konflikte, neue Sprache
Dementsprechend haben Annika Haller (Regie), Wilfried Buchholz (Dramaturgie, Bühne) und Johannes Frohnsdorf (Dramaturgie) den Stoff nicht nur inszenatorisch ins Heute transferiert, sondern gleich eine ganz neue Dialogfassung des Stückes erstellt, in Alltagssprache und frei von Natursymbolik, dafür mit viel Tiefenpsychologie und einem feinen Gespür für Situationskomik. Man fürchtete Schlimmes, und wurde überrascht: Das Ganze funktioniert erstaunlich gut, erzählt uns die gleiche Geschichte neu.
Kuno (exzellent artikulierend: André Eckert ) ist in Hallers Inszenierung nicht Erbförster sondern Bauunternehmer, die folienverhangene Bühne wird dominiert von Metallgittern und grauen Betonzimmern, immer wieder dreht, hebt und senkt sich diese triste Baukasten-Szenerie, in der Tochter Agathe eine sterile Musterwohnung bewohnt. Traumatisiert ist sie – so wird angedeutet – von väterlichem Fehlverhalten; und Albträume plagen sie, als Freundin Anna in Sportklamotten reinschneit (als Ännchen mit honigsüßen Koloraturen und großer Spielfreude: Marie Hänsel ). Ihr „Hast Du getrunken?“ bringt die desolate mentale Verfassung der Freundin auf den Punkt, die im Schlabberpyjama mit Essstörung und selbstverletzendem Verhalten lethargisch vor sich hinvegetiert und die frisch gemixten Gurken-Smoothies der Freundin verschmäht. Magdalena Hinterdobler gibt eine (noch) jugendlich-dramatische Agathe mit großer Theatralik und Hoffnungslosigkeit, betört mit ihrem süffigen „Wie nahte mir der Schlummer“ im Liegen (!) und liebt ihren Max zwar irgendwie, hat im Grunde aber jede Lebensmotivation verloren.
Nicht so Max, der überquillt vor emotionaler Energie und bereit ist, bis zum Äußersten zu gehen. Collin André Schöning debütiert mit schlankem lyrischem Tenor, kostet kleinste Verzierungen genussvoll aus und bleibt auch dramatischen Phrasen nichts schuldig. Seinem „Mich fasst Verzweiflung, foltert Spott“ entgegnet Kaspar nur ein schnödes „Du machst keinen entspannten Eindruck. Du hast eine Schießhemmung!“, wonach das Kugelgießen in der Wolfsschlucht stattfindet als Schießtraining mit tiefenpsychologischer Angstbewältigung.
Die Frage der Schuld
Kaspar (profund: Bjørn Waag) leidet als ehemaliger Soldat nämlich unter Flashbacks von Tötungsszenarien und will Max das Schießen als rein technischen Vorgang lehren. Statt wilder Tiere und Gewitterfront gibt’s also Nahkampftraining schwarzbekleideter Soldaten, was nachhaltig verstört, letztlich aber dem Tötungsakt nur jegliche Romantisierung austreibt.
So bleibt im Finale die Frage nach individueller Schuld oder kollektiver Verantwortung einer Gruppe national Gesinnter schwierig zu beantworten, korrupte Politiker (Kresimir Dujmic als Ottokar) lassen sich bejubeln vom Volk und der Eremit kassiert Schmiergeld, um Max zu begnadigen. Die mühelose Tiefe des jungen Ensemblebassisten Alexander Kiechle begeistert; der von Stefan Bilz einstudierte, überwiegend motiviert agierende Chor überzeugt vor allem in den ersten beiden Akten und Jakob Brenner leitet die Robert-Schumann-Philharmonie eher süffig als akzentuiert.
Dieser „Freischütz“ liefert Diskussionsstoff um Werktreue, ist kein Zuckerschlecken, aber wie sagte mein Sitznachbar zum heftigen Applaus: „Das muss man aushalten und drüber nachdenken. Wir leben ja hier auf keiner Insel!“