Foto: Geschlechter- und Rollentausch: Mojca Erdmann als Vicomte und Thomas Oliemans als Madame de Tourvel © Monika Rittershaus
Text:Jasmin Goll, am 4. Oktober 2020
Ein graues plastisches Halbrund, das schon den ein oder anderen Schaden davongetragen haben mag, innen kärglich eingerichtet und beleuchtet – hier fristen zwei Menschen ihr Leben. Es erinnert an eine durchschnittene Weltkugel, eine Kuppel oder gar ein Iglu (Bühne: Barbara Hanicka). Temperaturen unter dem Gefrierpunkt braucht es dafür nicht, die Gefühlskälte der Figuren in Luca Francesconis Oper „Quartett“ reicht allemal.
Die Marquise de Merteuil und der Vicomte de Valmont waren einmal ein Paar, jetzt würdigen sie ihr Gegenüber keines Blicks mehr und bekriegen sich mit Vorhaltungen. Die Einhaltung des coronabedingten Abstandsgebots braucht hier keine weitere inhaltliche Begründung. Tatsächlich war das aber nicht der Grund, die neue Spielzeit an der Berliner Staatsoper mit diesem Stück zu eröffnen. Laut Daniel Barenboim, der das komplexe Klanggeschehen vom Orchestergraben aus koordiniert, war die Produktion bereits seit zwei Jahren geplant. Sie ist erst die zweite Inszenierung des Stücks in Deutschland; nach der Mailänder Uraufführung 2011 und in der Folge mehreren Produktionen weltweit war „Quartett“ erst im vergangenen Jahr am Theater Dortmund zu erleben (mehr dazu hier).
Nun hat Barbara Wysocka die Erstaufführung der deutschen Fassung inszeniert.
Ursprünglich ist Francesconis Oper – basierend auf Heiner Müllers gleichnamigem Stück, das wiederum die Liebeswirren aus Laclos‘ Briefroman „Gefährliche Liebschaften“ adaptiert – in englischer Sprache angelegt. In der eigens für Berlin angefertigten deutschen Fassung gewinnen die Wortwechsel durch den Konsonantenreichtum an zusätzlicher Härte und Schroffheit. Mojca Erdmann als Merteuil hüllt die hohen Lagen der Partie in einen silbrigen, glasklaren, ja fast stechenden Klang, den sie wie Pfeile auf Valmont (Thomas Oliemans) richtet. Die höchsten Töne kommen dabei wie aus dem Nichts, fast körperlos.
Regungen des Körpers hat Merteuil mittlerweile ausgeschaltet. Herabfahrende Fotografien zeigen Ausschnitte nackter Körper und lassen uns zu Voyeuren des einstigen Liebeslebens der beiden werden. Jetzt zeigt sich Merteuil körperlich nicht mehr angreifbar, kann sich die Kehle durchschneiden und unversehrt bleiben. Sie strebt nach Souveränität in diesem Machtkampf, der zugleich ein Kampf der Geschlechter ist.
Als Valmont mit einer Affäre mit der Präsidentengattin Madame de Tourvel auftrumpft und Merteuil ihm ihre Nichte als nächsten Fang vorschlägt, nimmt das Spiel der beiden erst so richtig Fahrt auf. Merteuil mimt mit Unterhemd, Sakko, breitbeinigem Stand und säuselnden Melismen ihr männliches Gegenüber. Valmont dagegen ahmt seine Liebhaberin Tourvel in Strumpfhosen und falschen Brüsten nach (Kostüm: Julia Kornacka). Die Baritonpartie springt dabei immer wieder rasch ins Falsett um, was Thomas Oliemans mit großer Geschmeidigkeit meistert und vor allem in der zweiten Hälfte des Abends brilliert. Überzeichnet präsentieren sie stereotype Geschlechterbilder. Eine Antwort darauf, wie diesen zu entkommen ist, gibt der Abend eher nicht.
Lustvoll begibt sich Valmont in ein anderes Rollenspiel, in dem Merteuil die unschuldige Nichte spielt, er sie mit einem Rohrstock piesackt und die Nichte im Spiel schließlich umbringt. Die Triebhaftigkeit ist sein Machterhalt. Dabei steigen Streichersoli nacheinander aus dem Graben auf und kreisen, abwechselnd über die Lautsprecher hörbar, im Zuschauerraum. Sie erzeugen eine faszinierende Räumlichkeit und lullen die ‚Beute‘ ein. Zudem wird das Geschehen immer wieder klanglich durch Traumsequenzen unterbrochen. Mitarbeiter des Pariser IRCAM mischen den Live-Gesang dafür zeitweise mit voraufgezeichneten, elektronisch verfremdeten Stimmklängen. Dadurch entsteht ein Nahklang, der die Physis der Solist*innen dicht an die Zuhörenden herantreten lässt. Die Tänzerin Francesca Ciaffoni und die Kinderdarstellerin Ségolène Bresser begleiten das Bühnengeschehen immer wieder in unterschiedlichen Funktionen, mal doppeln sie die Liebhaberin und die unschuldige Nichte, mal spiegeln sie innere Vorgänge von Merteuil und Valmont.
Gleichzeitig gibt es da aber noch ein bedrohliches Außen. Knurrende Hunde oder Schneidegeräusche – zugespielt über Lautsprecher im Zuschauerraum – brechen urplötzlich in das Innen, den Klang des Orchesters und den Klang der Stimmen, hinein. Und auch die Regie stellt dem kammerspielartigen Zwei-Personen-Konflikt auf visueller Ebene eine destruktive Außenwelt gegenüber. Eine Videoprojektion eines Atompilzes oder eine Frau mit pandemischem Schutzanzug – punktuell werden Krisenzustände aufgerufen, die jedoch etwas beliebig scheinen. Doch zunächst gilt es, die Bedrohung im Inneren zum Schweigen zu bringen, denn für Merteuil ist das alles nicht nur ein harmloses Spiel. Sie bricht die Spielregeln, vergiftet den Wein, den sie Valmont reicht, tatsächlich und bringt ihn zu Fall. Dabei richtet sie die toxische Männlichkeit gegen den Mann selbst und stoppt damit seine Verfügungsgewalt über ihren Körper. Wie den Bedrohungen außerhalb jedoch beizukommen ist, bleibt offen. Trotz dieser tristen Aussicht gibt es in der Staatsoper viel Applaus für diese gelungene Produktion.