Foto: Alban Bergs "Lulu" an der Bayerischen Staatsoper. Lulu: Pavlo Hunka (Schigolch), Marlis Petersen (Lulu), Matthias Klink (Alwa / Ein Tierbändiger / Ein Athlet), Daniela Sindram (Gräfin Geschwitz), Bewegungschor © Wilfried Hösl
Text:Klaus Kalchschmid, am 27. Mai 2015
Für eine reine Zwölfton-Oper hat Alban Bergs „Lulu“ eine bemerkenswert reiche und vielfältige Aufführungsgeschichte hinter sich. Seit der Uraufführung der zweiaktigen Fragment-Fassung vor 80 Jahren und noch mehr, seit 1979 erstmals die dreiaktige Version in der Vervollständigung von Alban Bergs Particell durch Friedrich Cerha erstmals zu erleben war, stellt sich die Frage: Kindfrau oder Femme Fatale, Opfer oder Täterin, Naturwesen oder berechnendes Luder? Dmitri Tcherniakov interessiert das heute alles kaum, denn er konzentriert sich auf das zentrale Paar und deren unmögliche Liebe zueinander. Dafür hat er eine fulminante Darstellerin der Lulu, die sich der immensen Herausforderung dieser Partie nun schon in der achten Produktion stellt, oder der neunten, denn 1996 sang sie in Nürnberg eine von drei unterschiedlichen, aber gleichgekleideten Lulus (die des ersten Akts) unter Leitung von Eberhard Kloke, der mittlerweile eine spannende eigene Instrumentierung und Bearbeitung des dritten Akts vorgelegt hat, die in München allerdings leider nicht zur Diskussion gestellt wird.
Marlis Petersen spielt und singt denn auch mit hoher Präzision und einer in allen Lagen bemerkenswert großen, tragfähigen Stimme eine Frau, die weiß was sie tut; vor allem um den Mann ihres Lebens zu bekommen: Doktor Schön, den „Gewaltmenschen“, den sie kennt seit sie ein Kind war. Während des Prologs, in dem der Tierbändiger die Personen vorstellt, stehen beide Hand in Hand an der Rampe, als wären sie schon lange ein Paar. Und wenn Schön im zweiten Bild des ersten Akts auftritt, ist Lulu so überdreht und exaltiert, als gelte es zugleich den hübschen Jungen von nebenan zu verführen und ein unerreichbares Idol auf sich aufmerksam zu machen. Wenn dieser Mann ihr dann eröffnet, sie loswerden zu wollen, bricht eine Welt für die unbedingt Liebende zusammen. Entdeckt sie dann im dritten Bild als Tänzerin Schöns Verlobte im Publikum, bringt diese Demütigung sie in die allerheftigste Rage. Der Nachdruck und die Kraft, mit dem sie dann dem Mann einen Abschiedsbrief diktiert, können nur in der Erschöpfung und in einem Weinkrampf enden.
Mehr als die meisten Regisseure zeigen Tcherniakov und seine Protagonisten, wie schnell Ereignisse eskalieren können, wenn zwei Menschen einander begehren und lieben, aber keine Sprache dafür haben. Gerade weil Schön der unbedingten Liebe von Lulu nur die Unbeholfenheit seiner eigenen Gefühlen entgegnen kann, glaubt er (im zweiten Akt nach der Verheiratung mit Lulu) – real oder nicht real – sein Haus bevölkert von allerlei schrägen Typen und sieht einen einzigen Ausweg: Lulu mit allen Mitteln zum Suizid zu drängen. Mit welcher physischen Präsenz Bo Skovhus, nicht zuletzt in purer Verzweiflung, insistiert und Lulu ihn schließlich in Notwehr erschießt, das lässt den Atem stocken. Ebenso der Moment, wenn der Darsteller des Doktor Schön am Ende als Jack the Ripper im Kapuzenpulli eingemummelt und mit Turnschuhen auftritt. Zärtlich legt Lulu seinen Kopf frei und betastet ungläubig die grauen Haare. Ihr über alles Geliebter war doch glatzköpfig! Folgerichtig führt sie ihm die Hand, ersticht sich selbst und befreit sich endgültig von ihrer Sehnsucht, die Berg unüberhörbar deutlich in Musik gesetzt hat: mit dem im Verlauf der Oper immer mehr sich entwickelnden, zwölftönig, aber höchst tonal verdichteten Coda-Thema des Sonatensatzes, der Lulu und Schön gewidmet ist und das schließlich auch die finale Szene mit Jack the Ripper bestimmt und grundiert.
Dmitri Tcherniakov hat sich für diese höchst sinnlich physische, dabei auch psychologisch genaue und durchaus realistische Deutung einen extrem abstrakten, für ihn sehr untypischen Einheitsraum gebaut: ein raffiniertes, durch plötzliche, harte Lichtwechsel beleuchtetes Glas-Kabinett, in dem sich eine Masse aus anonymen Menschen in den Zwischenspielen synchron zur Musik bewegt, grauschwarz (Männer) oder pastellfarben (Frauen) gekleidet (Kostüme: Elena Zaytseva) und spiegelnd sich vervielfacht. Im London-Bild stehen diese individualisierte Masse dann halbnackt in Unterwäsche da wie eingefroren im gläsernen Labyrinth und bildet eine zutiefst verletzliche Folie für den Besuch der drei Freier Lulus – Wiedergänger ihrer toten Ehemänner aus dem ersten und zweiten Akt; ob Medizinalrat alias Professor (Christian Rieger, der auch einen höchst prägnanten Bankier im Paris-Bild verkörpert) oder Maler/Ein Neger (Rainer Trost mit noch fast jugendlich lyrischem Tenor und am Ende ein Rasterlocken-Boy). Matthias Klink müht sich etwas als Schöns Sohn Alwa mit der Höhe, während die Bässe und Baritone als Charakterdarsteller mit Buffo-Einschlag überzeugen können, so Martin Winkler (Tierbändiger/Athlet) oder Pavlo Hunka (Schigolch), durchaus prägnant auch Wolfgang Ablinger-Speerhacke (Prinz/Kammerdiener/Marquis). Daniela Sindram gibt der lesbischen Gräfin Geschwitz am Anfang verführerischen und spielerisch leichten Witz, bevor diese einzig selbstlos Liebende zur tragischen Figur wird und, am Ende überlebend, mit wortlosen Stoßseufzern – und eben nicht „Ver-flucht“ stammelnd – vergeblich die tote Lulu zu sich auf den Stuhl hochziehen will.
Im Paris-Bild zeigt sich, dass auch die kleinen Partien, die sich hier mit den Protagonisten zum vielstimmigen Ensemble vereinen, unter anderem mit Elsa Benoit, Cornelia Wulkopf, Heike Grötzinger, John Carpenter und Leonard Bernard exzellent besetzt sind. Tcherniakov, der Lulu hier, wie immer ganz in Weiß, nun aber auch mit entsprechender Pelzmütze wie eine russische Gräfin an die Rampe postiert, aber vor allem Kirill Petrenko beweisen, dass diese auch musikalisch grelle Gesellschaftssatire, in deren Verlauf Lulu zur Dirne gemacht wird, unabdingbar für das Stück ist. Petrenko gelingt es faszinierend, den der Zwölftonstruktur eingebrannten Expressionismus der Partitur mit manchmal schneidenden Blechbläsern, beißenden Paukenschlägen oder rasant sich steigernden Tempi aufleuchten zu lassen, aber auch die diversen außermusikalischen Strukturen und motivischen Bezüge freizulegen, ganz im Sinne des Regisseurs, der vor der Strenge und Kühle der Bühne das leidenschaftlich Spiel seiner Protagonisten umso deutlicher herausstellt.
Kein Wunder, dass Lulus Porträt, von dem immer wieder die Rede ist, und dem drei prägnante Akkorde in der Musik gewidmet sind, hier nur als Silhouette mit weißem Stift auf Glas gemalt und später verwischt oder erneut ergänzt wird – wie die Umrisse eines Unfallopfers auf der Straße.