Foto: Ensemble-Mitglieder des Stuttgarter Schauspiels in "Der Triumph der Waldrebe in Europa" © Björn Kleine
Text:Adrienne Braun, am 15. Oktober 2022
Kuscheln können sie nicht mehr mit ihrem Jungen. Er muss weder gebadet noch ins Bett gebracht werden. Und nun will sogar die Schule den kleinen David nicht länger unterrichten – denn er lebt nicht mehr. Der Achtjährige starb bei einem Unfall, Renate und Konrad aber wollten ihn nicht einfach „wegsperren, vergessen, verscharren“. Deshalb haben sie beschlossen: David soll weiterleben, durch sie. Er könne seine Gedanken nicht mehr ausdrücken, erklärt die Mutter, deshalb übernehme sie das nun. Andere Eltern würden behinderten Kindern schließlich auch helfen.
Es ist ein spannendes Thema, das sich der österreichische Autor Clemens J. Setz vorgenommen hat in seinem neuen Stück „Der Triumph der Waldrebe in Europa“, das am Schauspiel Stuttgart nun uraufgeführt wurde. Denn es verhandelt die Frage, was die Identität eines Menschen heute ausmacht. Der virtuelle Raum ermöglicht längst ein Leben nach dem Tod, schließlich kann eine Künstliche Intelligenz Existenzen konstruieren, die auf Partnersuche gehen oder Kundengespräche führen, obwohl sie real nicht existieren oder besser: obwohl sie nicht aus Fleisch und Blut sind.
Es ist schaurig, als im Kammertheater Stuttgart ein Rollstuhl auf die Bühne geschoben wird, auf dem eine Kamera und allerhand Technik stehen: Das ist der Junge, an den sich die Eltern klammern und der im Stück eine gesellschaftliche Debatte ausgelöst hat, wer über Leben und Tod entscheiden darf. Tagtäglich stehen Reporter vor dem Haus der Eltern und löchern Renate mit spitzfindigen Fragen. Sie ist überzeugt: Nur Eltern haben das Recht, ein Kind sterben zu lassen – oder ihn weiterleben zu lassen als ein computergesteuertes Etwas, das über Textbotschaften kommuniziert, die die Mutter ins Tablet tippt.
Man ahnt, dass schon bald solche Debatten Realität werden könnten. Auf dem Theater ist das Thema allerdings schnell erzählt, zumal es Clemens J. Setz nicht um das Leid dieser Eltern und deren Motive geht, die sie zu einer solch wahnwitzigen Idee getrieben haben. Deshalb verlegt der Autor sich auf einen anderen Aspekt: die mediale Aufmerksamkeit und den Shitstorm, der im Netz losbricht, weil zahllose Menschen meinen, ihre eigene Meinung zu der Causa David kundtun zu müssen. Die einen ergreifen Position für die Eltern, andere ereifern sich. Lieder werden über den Jungen geschrieben, Hassbotschaften verbreitet und sogar „Kill-Listen“ verfasst.
Medialer Aufreger
Nicht nur die Mutter, auch der YouTuber Tim (Jannik Mühlenweg) wird zur Zielscheibe in der medialen Aufregung, weil er das Vorgehen der Eltern kritisiert hat. Nun wird er als Mörder beschimpft, da er dieser virtuellen Kreatur das Leben abspricht. Immer wieder entschuldigt er sich halbherzig, sein Beitrag habe einen „Mangel an Empathie“ aufgewiesen – und glaubt doch selbst nicht daran.
Die Personen, die Clemens J. Setz konstruiert, sind sprachlich nicht allzu versiert, sie stottern unfertigte Sätze heraus, verhaspeln sich, vermutlich ist das ein Versuch, die unterkomplexe Sprachkultur des Netzes auf die Bühne zu übertragen. Loriot lässt grüßen bei einem arg in die Länge gezogenen Interview mit der Mutter, bei dem es Probleme mit der Technik zu geben scheint, sodass Renate sich zunehmend verheddert und verzweifelt. Das TV-Team scheint es insgeheim darauf abgesehen zu haben.
Der Regisseur Nick Hartnagel sieht in diesen Vorlagen nur den Jux. Seine Inszenierung will vor allem witzig und schräg sein. Die Kostümbildnerin Tine Becker hat den Figuren futuristische Mode mit ulkigen Klamotten und Kochtopffrisuren verpasst. Auch das Bühnenbild von Yassu Yabara verrät, dass das Team kein stringentes Konzept für den Stoff entwickelt hat. Auf der Bühne wird eine Wohnung angedeutet, deren Grundriss in platter Symbolik ein Kreuz darstellt. Die Wände wurden durch Vorhänge ersetzt, durch die das Publikum alles, was dahinter passiert, wie durch einen störenden Filter wahrnimmt. Also werden Szenen gefilmt und projiziert. Dann wieder schieben die Schauspieler Möbel rein und raus, als habe die Regie sich von spontanen Einfällen mitreißen statt präzise zu definieren, was außen, was innen, was realer und virtueller Raum ist.
Lichtblick an diesem Abend ist Therese Dörr als Renate. Mit dunklen Augenringen trotzt diese Mutter den Anfeindungen und bäumt sich auf in ihrem kläglichen Kampf. Dörr spielt sie als durchaus vernünftige, scharfsichtige Person, der Wahnideen eigentlich fremd scheinen. Immer wieder fragt sie sich, wer hinter all den Briefen stecken mag, die sie bekommt, und vermutet, dass es ein und dieselben Personen sein könnten, die hier schreiben. Letztlich spiegeln die Kommentare doch nur ihre eigenen widerstreitenden Gefühle wider.
Am Schluss sinniert die Mutter über das, „was man ausblendet, weil es die ganze Zeit da ist“ – grad so, als wisse sie sehr wohl um ihren Selbstbetrug, der sie zunehmend erschöpft, denn Verdrängen macht sehr müde.
Wie die Geschichte ausgeht, lässt das Stück offen, aber am Ende hebt sich langsam das Wohnungskreuz in Richtung Schnürboden – und erklärt sich das Bühnenbild im symbolischen Akt: Der Vorhang hebt sich im doppelten Wortsinn, und, wer weiß, vielleicht werden die Eltern nun endlich der bitteren Wahrheit ins Gesicht schauen.