Foto: Menschenaffen in Rossinis „L‘Italiana in Algeri“ in Weimar © Jörg Landsberg
Text:Roland H. Dippel, am 16. Oktober 2016
Allzu naheliegend wäre ein Diskursbaustein über Eigenes und Fremdes in Rossinis „L‘Italiana in Algeri“ am Schauplatz des Kunstfestes Weimar gewesen. Tobias Kratzer, Bayreuths „Tannhäuser“-Regisseur 2019, übersprang diese Sicht und machte aus der erotischen Faszination des Unbekannten ein Labor für das allerschwerste Thema, die Erforschung von Begehren und Liebe. Das Besondere: Menschenaffen analysieren und scheitern in diesen Experimenten am Menschen. Polarisiert gab sich das Premierenpublikum im Deutschen Nationaltheater Weimar vielleicht auch, weil unsere Spezies in diesem Labor keine rühmliche Position einnimmt. Und das intelligentere Affensystem zeigt sich korrumpierbar durch Sex und Toys.
Zum Triumph auf ganzer Linie wird seine erste eigene Operneinstudierung am Haus für den jungen Kapellmeister Dominik Beykirch. Er ermöglicht der Staatskapelle Weimar ein fantastisches Gemeinschaftserlebnis zwischen Bühne und Graben: Beykirch hat stimmig tolle Tempo- und Klangrelationen und ist ein echter szenischer Teamplayer. Alle Musiker dialogisieren auch untereinander und mit der Bühne. Zwei ideale Gäste für Isabella und Lindoro und das Musiktheater-Ensemble sind so agil dabei, dass Kratzer – mag man seinem Ansatz mögen oder nicht – feingeistige Komödienmotorik entfesseln kann. Der Jux hinter dem Trubel hat Tiefblick, die musikalische Intelligenz ist der szenischen ebenbürtig und manchmal sogar überlegen.
Die Aufregung über das Labor der Affen bleibt unverständlich. Im von Rainer Sellmaier realistisch auf die Bühne gesetzten Labor greift Tobias Kratzer traditionelle Erzählmuster auf, denkt Orientsatiren und Gefühlsanordnungen von 1800 in heutige Kontexte hinein: Primaten mit weißen Kitteln forschen zur Ouvertüre mit wissenschaftlichem Zubehör über den „homo sapiens“, das unbekannte Wesen. Schnell ist das Interesse an weiblichen Rundungen der Schwerpunkt. Und bei der Theorie bleibt es nicht!
Auf niedliche Zooperspektiven wird verzichtet, zum Glück. Läusesuchen, Kraulen, Posieren – all das hat Signifikanz ohne Übertreibung. Hinter den „realistisch“ gestalteten Affenmasken ist die Mimik der Spieler nicht erkennbar, so entsteht ein Figurentheater-Effekt: Betrachter machen sich eigene Gedanken über Hirne und Hormonstöße der Primaten. Da ist schon die violette Hibiskusblüte am Ohr der von Mustafà verstoßenen Gattin Elvira und ihr gebeugter Gang beredter als das Klischee der Heulsuse, das Caterina Maier mit Stimm- und Spielstärke verweigert.
Man sollte ohne Warum akzeptieren, dass die drei Italiener in Trekking-Montur aus dem Keller in dieses Labor gelangen und die sprachliche Kommunikation so flutscht wie die Banane aus der Schale. Dann steht einem intelligenten, unterhaltsamen und nachdenklichen Abend nichts im Weg.
Durch allzu menschlichen Sex und Spaß zersetzt sich die Primatenhierarchie Schritt für Schritt. Sonst ist Isabellas Kavatine „Per lui che adoro“ eine subtile bis ulkige Scharfmacherei, hier eine Lektion in Modetricks und Sexappeal für die da ganz unbedarfte Geschlechtsgenossen-Schimpansin Elvira. Das geht später gründlich schief. Lindoro und Taddeo machen den imposanten Gorillachef Mustafà mittels Meditation und Triebverzicht zum „Pappataci“, ganz ohne „Pasta e Vino“.
Am bombigen Dekolleté der blonden Isabella zerschellt das Labor der Affen trotzdem. Da ist es sogar konsequent, dass die Affengesellschaft – Uwe Schenker-Primus (Mustafa), Kathrin Filip (Zulma) und Daeyoung Kim als sympathischer Orang-Utan Haly – musikalisch etwas hinter der Belcanto-Souveränität der Menschen zurückbleiben muss. Offenbar ist bei denen ausgeglichene erotische Kommunikation gut für die Stimmen: Isabella verbandelt sich hier zeitgemäß polyamourös – das wird sonst oft unterschlagen – mit Lindoro UND Taddeo. Ihre beiden Lover agieren im Labor der Affen fast gleichrangig. Lindoro alias Milos Bulajic gewinnt wohl nur deshalb am Ende, weil er seinen Höhentorpedo-Part so betörend schön singt. Taddeo alias Alik Abdukayumov bietet Isabella echtes, kein jauliges Kontra. Dazu verschlingern sich Musik und Szene immer wieder innig.
Auf der Bühne trägt Tamara Gura als Traumfrau Isabella zwar Goldbikini und Minikleid, musikalisch Hosen und Reitgerte. Mit idealen Voraussetzungen in Timbre, Ausdruck und Kondition ist ihre Auslegung von Rossinis Noten nahe an der (legitimen) vokalen Anarchie, indes alle anderen meist bei den tradierten Verzierungen bleiben. Nur Tamara Gura oktaviert, springt mit Tönen nach oben/unten/seitlich, sogar mitten in den Phrasen. Sie trompetet, schmachtet, lockt und nimmt es mit jedem Gorilla am Strand oder im Zoo auf. Das reißt alle Schimpansen von den Sitzen, bis Isabella sie bei ihrem Rondò mittels Antennenhelmen und Fernsteuerung zum Spielzeug entwürdigt. Allerspätestens da mündet Tobias Kratzers Phantasie in ein Parabelspiel von zivilisatorischen Prozessen und deren Manipulation.
Ankündigt sich das schon, wenn Taddeo in der Kaimakan-Szene auf hohem Ast das Schnupperpraktikum zur Affenexistenz absolviert. Das ist nicht geheuer. In ihrer emotionalen Not pfercht sich die sympathische Schimpansendame Elvira ins pinke Ballerinen-Kleid und vergräbt ihr Gesicht unter blonder Perückenmähne. Verfehlt: Diese Affe-Mensch-Karikatur wird Mustafà erst recht zum Graus, obwohl er viel mehr ist als nur testosterongesteuerter Triebbolzen: Mustafà will wissen und nach der Pause geht es ihm sogar um emotionale Verdichtung.
Aus dem Parkett beobachten die Affen schließlich den Abzug des doch recht abgeschmackten Menschentrios. Dazu wuchert der schönstimmige Herrenchor (einstudiert von Markus Oppeneiger) zur Hymne auf „La bella Italiana“ letztmals mit beglückenden musikalischen Pfunden. Auch die heutigen, immer ernsthaft flapsigen Untertitel und die mit Anspielungen durchsetzten Klavier-Rezitative haben schlichtweg Format.