Klaus Müller in „14 Vorhänge“ am Staatstheater Augsburg

Tiefenbohrung ins Herz des Theaters

Einar Schleef: 14 Vorhänge

Theater:Staatstheater Augsburg, Premiere:19.02.2021 (UA)Regie:André Bücker

Heruntergelassen hängt der gigantische Kronleuchter auf Hüfthöhe. Herausgedreht sind alle Lampen. Wo sonst die Zuschauerreihen sich befinden, sind nur Schlitze im Betonboden zu sehen. Verwaist sind die auch die Ränge. Staub hat sich über alles im Theatersaal gelegt, Staub der Zeit auch des Vergessens? Hinterm Rücken hämmert es. Als sich der Kritiker umdreht, um zu erfassen, was da vor sich geht, stößt er sich das Bein. Der heimische Wohnzimmertisch ist Teil dieser virtuellen Rundum-Inszenierung geworden.

Für den Bereich Schauspiel des Digitaltheaters am Staatstheater Augsburg hat Intendant André Bücker die Uraufführung als „14 Vorhänge“-Gang durchs leere Theaterhaus konzipiert. Er macht aus Einar Schleefs Solo ein Zwei-Personen-Stück. Genauer: Es ist ein Ein-Zuschauer- und Ein-Schauspieler-Stück, das mit den Möglichkeiten der 3D-Brille operiert. Klaus Müller ist der rezitierende Führer durchs Bühnengebäude, das mehr Wrack und Skelett ist. Man folgt ihm durch die Räume, während er vom Schauspieler spricht, dessen Welt verschwimmt. Schleefs Hommage an den Mimen Bernhard Minetti, die zugleich Reflexionen über Glanz und Gloria, die Brüche und Bravos des dramatischen Universums beinhaltet, gedeiht hier zu allgemeinerer Natur.

Vom Foyer aus dringt der Schauspieler immer weiter ins Innere vor beim Durchstreifen der leeren Hülle. Fassungslos zeigt er sich, als er vom Untergeschoss bis hin zum Boden kommt, von dem die Kuppeldecke mit Stahltraversen abgehängt ist. Fassungslos zeigt er sich, dass alles wüst da liegt – dass das Augsburger Theaterhaus sich gerade in der Totalrenovierung befindet, ist für die Inszenierung ein Glück. Überall sind aufgerissene Kabelschächte zu sehen, Betonstaub liegt als Firniss auf allem. Zusätzlich sind die Bilder in Grautönen gehalten. Das schafft maximale Effekte für die 3D-Brille – sie wird dem Interessenten vom Theater zugesendet und er hat zwei Tage Zeit zum Schauen, bis er sie zurückschicken muss. Dass sich der Zuschauer stets im Zentrum des Sichtfeldes befindet, ist ungewöhnlich für eine Theatersituation. Und natürlich ist das hier auch eher Crossover aus Film- und Videospiel-Perspektive als Theater. Denn man blickt zentriert wie ein Ego-Shooter aufs Geschehen, kann aber wie im Film nicht eingreifen, außer vorspulen. Das wirkt in Zeiten, wo Theater statt Guckkästen endgültig Stätten von Interaktion und Immersion sein sollen, recht komisch. Werden die Theater durch die Pandemie zu einer Art Deprivationstank? Brille auf und Shakespeare off? (Aber bitte gut desinfizieren hernach?)

Das wirkt einigermaßen befremdlich, weil Tempo und Bewegungsrichtung allein die Produktion bestimmen. Der Zuschauer kann sich nur im Rundumblick um sich selbst drehen und muss aufpassen, nirgends anzustoßen. Neben den architektonischen Erkenntnissen über die Bauweise eines Bühnengebäudes hält der 30-minütige performative Spaziergang einige hübsche Effekte bereit. Etwa wenn Müller mit der Nebelmaschine die Kamera (den Zuschauerblick) umreist und im Nebulösen zurücklässt.

Allmählich umrundet der Schauspieler das Zentrum des Hauses, legt dabei wie in einer Tiefenbohrung offen, wie es um den Saal und Bühne als Herzstück herum gebaut wurde. Damit nähert er sich auch dem Wesen, der Eigenart des Theaters an. Im Zuschauersaal reift die Erinnerung daran, auf der Bühne hinterm geschlossenen Eisernen kehrt sie vollends zurück. Der Applaus und Zuspruch, das Interesse und Regime der Blicke. All das ist nicht mehr. Dem Schauspieler wurde gekündigt, die Allianz mit dem Publikum aufgekündigt. Alle bleiben auf sich geworfen jeweils im Staub zurück. Laufen sie Gefahr, das Theater zu vergessen? Man will es nicht hoffen, denn solche Spielereien wie „14 Vorhänge“ funktionieren als überraschende Gimmicks zwei, drei Mal, bevor sie als bloße Erinnerungen ans Theater verblassen. „Du kommst nie wieder. Niemals, niemals, niemals, niemals, niemals!“ Der bedacht sonore Klaus Müller spricht diese Worte nicht und wird doch zu einer Lear-Figur, als er sich eine liegengebliebene Krone aufsetzt. So richtig will die Requisite nicht passen in dem sonst absolut leeren Theaterraum. Nur kurz verbleibt sie auf dem Schauspielerkopf, der virtuelle Bühnenraum verblasst alsbald. Und Shakespeare scheint nachzuhallen

„Den Druck der trüben Zeit muss man nun tragen;
was man fühlt, sprechen, nicht, was man sollte, sagen.
Der Ältste trug am schwersten: jung daneben
werden wir nie soviel sehn noch so lange leben.“