Foto: Therese Berger, Thomas Wolff und Oliver Baierl in Tom Peuckerts "Gedächtnisambulanz" am Theater Bielefeld. © Philipp Ottendörfer
Text:Jens Fischer, am 17. Juni 2011
Erinnerung ist unser Identitätspuzzle aus Fakt und Fiktion. Wir sind das, was wir meinen erfahren zu haben. Und wenn wir uns daran nicht mehr so genau erinnern können, sind wir alsbald nicht mehr. Oder finden uns in der Gedächtnisambulanz wieder, wenn der Abgleich von einst und jetzt Erlebtem nicht mehr gesellschaftskompatibel gelingt. Eine solche Notfalleinrichtung gibt es am Bielefelder Uni-Institut für Physiologische Psychotherapie. Untersucht wird beispielsweise, ob der Patient einfach nur schusselig oder charmant zerstreut ist, an Amnesie oder bereits unheilbar an Demenz leidet. Es gibt auch dort keine Pillen gegen Alzheimer & Co. Aber nun ein Begleitseminar zum Thema am Stadttheater um die Ecke.
Kopftheaterspezialist Tom Peuckert wollte mehr als nur die Hardcore-realistischen TV-Dokus oder Hardcore-rührseligen Kinofilme über Erinnerungskranke und Geistesverwirrte kopieren. Und formuliert gleich selbstironisch seinen Stück-Ansatz. „Politik, Geschichte, Nostalgie, Wissenschaft und Seele bunt durcheinander. Handvoll Darsteller, viel Musik! Volkslieder, Oldies – das sind Gedächtnisspeicher!“ Die Memory-Funktion unseres Gehirns und ihre Störungen hat Peuckert von der molekularbiologischen bis zur philosophischen Seite recherchiert, dreht das Thema dann aber um: fokussiert nicht den Verlust von, sondern das Leiden an Erinnerungen und den Umgang damit, kreiert also einen Balanceakt zwischen gesundem Vergessen und pathologischem Verdrängen. Zudem denkt er auch noch über alles nach, was in monologischen Blöcken oder lyrischen Verdichtungen präsentiert wird. So vielfältig die Aspekte, so vielfältig die sprachlichen Mittel. Ein flotter Mix aus Prosa, Poesie, Vortrag, Analyse und Alltagsdialogen. Theater fürs Hörspielstudio?
Regisseur Patrick Schimanski setzt sich die Warhol-Perücke auf, versammelt die Darsteller als Therapiegruppe zur Lindeblütenteestunde à la Proust, lässt also Gebäck als Erinnerungsfutter knabbern, animiert dann gestisch und musizierend die Hirn-Netzwerke. Schon erwacht der ewige Ossi, schwelgt comedyselig in Ostalgie und DDR-Hass, ein Paar memoriert traumtrunken Gemeinsamkeiten ganz unterschiedlich, ein Sohn will vom Vater etwas über die tote Mutter wissen, Stahlhelm-Opa unbedingt vom Krieg erzählen, eine Frau nicht mehr an ihr totes Kind denken, jemand seinen verlegten Lottoschein wieder finden … In direkter Publikumsansprache mit hellwach entspanntem Spielgestus entsteht eine fluffige Assoziationsrevue, fröhlich unangestrengt, ohne an gedanklicher Tiefe einzubüßen. Äußerst anregend, ebenso unterhaltsam. Und eine prima Idee aus der Renaissance wird wieder lebendig: Man stelle sich das Gedächtnis als Theater vor, ein identitätsstiftendes, gedankenfideles Erinnerungspuzzle aus Fakt und Fiktion.