Die Nazis hatten die „Serbenhalle“ ja quasi „geklaut“ im Zuge der balkanischen Feldzüge des zweiten Weltkrieges – wie eine überdimensionale Schildkröte mit kleinem Spitzdach liegt die in den Serbien demontierte und in Wiener Neustadtwieder aufgebaute Bauhalle etwa für Lokomotiven und anderes Großgerät für den zweiten der Weltkriege nun im Gelände. Paulus Mankerzeigt im Seitenschiff der Industrie-Kathedrale auch die seit vielen Jahren erfolgreiche „Alma“ (über das Leben und die Lieben von Alma Mahler-Werfel); und jetzt eben in über sechs Stunden 75 der 221 Szenen aus dem monströsen Werk von Karl Kraus.
Hin und her in der Tiefe des Raums rollt auf Gleisen ein entkernter, sparsam mit szenischen Aufbauten versehener Güterwaggon; für die bedrückende Vision eines Schützengraben-Modells im Wiener „Prater“ zuckelt auch ein mit Publikum wie mit Kriegs-Schlachtvieh beladener Bummelzug hinaus ins Grüne vor der Halle. Feldpredigten lassen draußen das christliche Menschenbild wie unter Splitterbomben zerbersten, und Alice Schalek, die im ersten großen Krieg zur ersten Frau an der Front der Kriegsberichterstatter wurde, faselt sich besoffen vom extremen Erleben des kriegerischen Moments. Diese gräuliche Sirene des Krieges ist ein Original – wie überhaupt Karl Kraus ja die überwiegende Masse der Texte authentischem Material der Epoche nach-geschrieben hatte. Letztlich ist ja das ganze Stück der verzweifelte Versuch, in aller Vielfalt des unüberschaubaren Personals eine Art Reportage des wachsenden Wahnsinns zu erarbeiten.
Paulus Mankers Inszenierung ist am allerstärksten dort, wo sie die latente Deformation bürgerlichen Bewusstseins im Angesicht wachsender kriegerischer Verblendung als kollektives Irre-Werden beim Wort nimmt. Dann strömen die drei Dutzend Darstellerinnen und Darsteller zwischen uns Publikum hin und her, versorgen uns mit „gesundem Volksempfinden“ und dem haltlosen Drang auf der Suche nach dem Feind: „Serbien muss sterbien“ dröhnt’s nach dem Attentat von Sarajewo auf den Thronfolger Franz Ferdinand und dessen Gattin auch vom Dach des kleinen „Cafe Serbia“ herab, das als Imbiss eins der Spiel-Zentren ist in der lang gestreckten Halle. Auch vor dem „Cafe Pucher“ stehen Cafehausstühle, auch am legendären Wiener „Sirk-Eck“ (wo Kraus alle Akte des Stückes und das Vorspiel beginnen lässt); später an der einen Seite des Raums in einer Art Nachtbar – und auf der anderen im großen Restaurant, wo in der Pause Teile des Ensembles feines Essen servieren.
Von dort aber geht’s direkt (und dramaturgisch klug) über in den dramatischen Verfall des Alltags im Krieg: zu „fleischlosen Tagen“ im Restaurant und dem Versorgungselend der Markenwirtschaft. Das Land, die Bevölkerung hungert, auch weil gerade das althergekommene Klassensystem zwischen Arm und Reich noch immer funktionieren soll. Von der Straße (wo die Frauen, deren Männer im Krieg sind und bleiben, ums letzte Stückchen Fleisch streiten) kraxeln wir hinauf in die vielen Spezialräume des Spiels: in die Zeitungsredaktionen, wo nun nur noch gelogen wird (Kraus selbst, der Journalist, war ja der radikalste, rabiateste Verächter des handelsüblichen Journalismus!): in die wimmelnden Vorhöllen der Militär-Bürokratie an der Heimatfront, wo niemand mehr zum ersehnten Recht aufs Überleben kommt; schließlich ins immer wieder besonders schmerzhaft und drastisch genutzte Lazarett, wo sich die präfinale Apotheose ereignet in der stärksten Szene dieser sechs Stunden. Gerade wird nach vier Jahren Krieg der Frieden ausgerufen – und alle, das Ensemble und irgendwie auch wir Publikum, verfallen zu gewaltiger, gewalttätiger Wagner-Musik in eine Art letzten Taumel der Verzweiflungen. Aus dem Inferno dieses Lazaretts kommt niemand unbeschädigt heraus.
Paulus Manker (der als schwerstseniler Kaiser Franz Joseph auch mitspielt gleich nach der Pause) ist in diesem Kraftakt, in diesem theatralischen Exzess, etwas sehr Seltenes gelungen: Geschichtsvermittlung (an alle Orten können wir mittels QR-Codierung Zusatzinformation abrufen!), hineindestilliert in eine Art apokalyptischen Grenzgang des darstellenden Theaters. Natürlich lässt sich weiterhin trefflich streiten darüber, ob nun 75 von 221 Szenen genügen (die Gesamtaufführung von allem würde, hochgerechnet, etwa einen Tag dauern) oder vielleicht auch schon wieder zu viel sind. Johann Kresnik im Bremer U-Boot-Bunker kam einst mit etwas über zwei Stunden aus. Es lauern halt auch mehrere Stücke in diesem Text. Entscheidend ist die Wirkung, alle Längen inklusive – hier trifft uns Manker tief im Innersten, in Seele, Herz und Hirn; in den Eingeweiden. Im ewigen Wahnsinn des selbstverschuldeten Krieges. Im Herz der Finsternis.